: Das Machtmädchen
von KARIN NINK
Sie wird es. Sie wird es nicht. Sie wird es. Sie wird es nicht.
Sie wird es. Angela Merkel (45) – die neue Chefin der Christdemokratischen Partei Deutschlands.
Heute wird sie ihre Kandidatur bekannt geben. Nach aller politischen Logik gibt es zu ihr keine Alternative mehr. Und sie signalisiert auch nichts anderes mehr als: Ich will diesen Job. Selbstsicher und entspannt, mit gut geschminktem Gesicht den Blick geradeaus in die Fernsehkameras gerichtet – Angela Merkel schaut nicht mehr nach unten, was sie immer dann tut, wenn sie sich ihre Unsicherheit nicht anmerken lassen will. Sondern herausfordernd und ihrer künftigen Rolle bewusst.
Einst Mädchen, nun Chefin
Angela Merkel auf dem bisherigen Höhepunkt ihrer Politikkarriere. Nicht mehr das „Mädchen“ von Helmut Kohl, sondern eine Frau, die nach reiflicher Überlegung entschieden hat, Chefin der CDU zu werden und damit die erste weibliche Parteivorsitzende in Deutschland überhaupt. Als Helmut Kohl die in Hamburg geborene, aber in Templin aufgewachsene Physikerin vor zehn Jahren als doppelte Quotenfrau – ostdeutsch und weiblich – ins Kabinett geholt hat, ahnte niemand, dass aus der verhuschten Pfarrerstochter einmal die Hoffnungsträgerin der von Männern beherrschten CDU werden würde.
Freudig fasziniert vom Westen und dem Kanzler der Einheit treu ergeben, hatte Merkel damals mitgespielt. Sie hat Kohl zwar nicht nach dem Mund geredet, aber die offene Konfrontation hat sie auch nicht gesucht. Im Zweifelsfall wurde sie krank. Erzählt wird, sie habe sich bei einer unionsinternen Diskussion zum Paragraphen 218 just in dem Moment den Hals verrenkt, als sie aufstand, um gegen den Willen von Kohl der CSU Paroli zu bieten. Doch anders als das Gros der Westpolitiker hat sie sich ihre innere Unabhängigkeit bewahrt. „Wir Ostdeutschen kannten uns damit aus, uns mit Mächtigen zu arrangieren, ohne eine totale Bindung einzugehen“, sagt sie. Michael Schindhelm, der jahrelang im Institut für Physikalische Chemie der Akademie der Wissenschaften der DDR ein Büro mit Merkel teilte, spricht von dem „eigenartigen sozialen Mechanismus“, den sie sich angeeignet hätte: „Tarnung anzulegen, wenn das System zudringlich wurde, Tarnung abzulegen, wenn es abwesend war“. Vielleicht ist dies das Geheimnis der Angela Merkel, über das zur Zeit so viel spekuliert wird. Was sie unter Ulbricht und Honecker verinnerlicht hatte, wendete sie intuitiv bei Kohl an: Sie war im System, aber nie Teil davon.
In der DDR gehörte sie „wie alle anderen“ zu den jungen Pionieren. Sie war nicht die Aufmüpfige, die sich ihre Zukunft im real existierenden Sozialismus verbaute. Aber sie hielt innerlich Abstand. Auch im System Kohl revoltierte sie nicht. Ungerührt ließ sie die anderen schwätzen, dass sie nur ein willfähriges Instrument des großen Einheitskanzlers sei und entwickelte dabei still ihre eigene, westkompatible Politikeridentität. Die Tarnkappe saß gut. Und Angela Merkel lüpfte sie nur langsam.
In den zahlreichen Pressekonferenzen der vergangenen Wochen, in denen die Parteispitze nach zähen Präsidiumsdiskussionen wieder einmal die neuesten Entwicklungen in der Finanzaffäre kommentieren musste, saß sie neben Wolfgang Schäuble und überließ ihm das Feld. Sie setzte diesen langweiligen, konturenlosen Gesichtsausdruck auf, den sie immer dann annimmt, wenn man ihr zu nahe kommt. Lange. Sehr lange. Ganz selten nur verdrehte sie die Augen. In solchen Momenten konnte man ahnen: Da ist noch was.
Aber was?
Diese Frage stellte sich erst recht, als sie durch die Talkshows der Republik tourte und die vehemente Aufklärung der Finanzaffäre mit genauso viel Verve vertrat wie die Anhänglichkeit an Helmut Kohl. Wieso nur hielt diese Frau weiter an dem Dicken fest? Ist sie nicht doch genauso feige wie all die anderen? Oder verfolgt sie eine Strategie – sachlich und machtorientiert?
Jetzt kennen wir die Antwort.
Die eigene Position machte sie, ohne ihren Parteivorsitzenden Schäuble zu fragen, schließlich in der FAZ deutlich. Als sie dort im Dezember zum endgültigen Bruch mit Kohl und dessen Ära aufrief, waren die modernen und aufgeschlossenen Christdemokraten erleichtert, die Kohlianer erschüttert. Als Angela Merkel die Tarnkappe absetzte, wurde sie zur Symbolfigur eines christdemokratischen Neuanfangs.
Merkel beeindruckte das nicht erkennbar, und der Noch-Parteivorsitzende Schäuble ließ es zu. Wer weiß, vielleicht ahnte Schäuble schon damals, dass er ihr bald mehr würde zumuten müssen, als Merkel ihm mit diesem Artikel. Solange er loyal ihr gegenüber war, war sie auch loyal ihm gegenüber. Als Schäuble dann öffentlich ihrer Unterstützung bedurfte, weil er sich selbst in den Fallstricken der Finanzaffäre verfangen hatte, ergriff Merkel schließlich auch in den CDU-Pressekonferenzen das Wort. Klar und deutlich. Den Blick nach vorn.
Jetzt tritt Angela Merkel an, ihm im Amt des Parteivorsitzenden nachzufolgen. Die Diskussion darüber beobachtete sie in den vergangenen Wochen entspannt. Anders als ihre Westkonkurrenten, die ihren Ehrgeiz kaum noch zügeln konnten, demonstrierte Merkel heitere Gelassenheit: „Ich war in meinem Leben öfter mit Ungewissheiten konfrontiert, ich kann damit leben.“
Wieder hat die Ostdeutsche den Westkollegen etwas voraus: Sie kennt Brüche und Neuanfänge. Während der Wende im Demokratischen Aufbruch aktiv, war die bis dahin politisch Unengagierte schnell stellvertretende Sprecherin der ersten frei gewählten DDR-Regierung unter Lothar de Maizière. Sie hat das politische Ableben von de Maizière überstanden und die Enttarnung des Hoffnungsträgers Wolfgang Schnur als Stasi-Spitzel. Unbeschadet wurde sie 1990 direkt in den Bundestag gewählt und unter Kohl Familienministerin.
Schon damals muss sie mit einem gesunden Selbstbewusstsein ausgestattet gewesen sein. So brachte sie es bis heute zur ersten Generalsekretärin der CDU. Das befriedigt. Besonders, wenn man so lange als naives „Mädchen“ unterschätzt wurde und keiner merkte, dass dieser ausdruckslose Bernhardinerblick nur Mimikry ist.
Lüpft sie den Schleier, wird der Blick klar, die Hände greifen nicht länger suchend ineinander und es erscheint eine ironisch-witzige, gebildete Frau. Gern erzählt sie Anekdoten aus ihrer ostdeutschen Jugend und plaudert über die Bücher von Thomas Brussig und die unterschiedlichen Wahrnehmungen der „Sonnenallee“ von Ossis und Wessis. So kann sie in kürzester Zeit ein Publikum für sich einnehmen, dass nicht gerade im Ruf steht, Anhänger der CDU-Generalsekretärin zu sein. So hat sie auch die Herzen der CDU-Basis erobert: mit Offenheit und einer Sprache, die nicht von westdeutschem Politkauderwelsch verfälscht ist.
Graue-Maus-Image wohlgenutzt
Aber Angela Merkel wusste auch immer die Fehleinschätzungen und ihr Graue-Maus-Image zu nutzen: „Unterschätzung ist was Schönes, weil man im Schatten ungestört leben und seine Sachen machen kann“, sagt sie. So plant sie ihre Karriere nüchtern und sachlich – eine Naturwissenschaftlerin eben. Sie analysiert und seziert das System, in dem sie sich bewegt, schlussfolgert und handelt im richtigen Moment.
Erst nach gründlicher Analyse veröffentlichte sie den Lossagungsartikel in der FAZ. Nach genauer Beobachtung verteilte sie auch die heiß begehrten Interviewtermine. Denn die Kräfteverhältnisse und Brennweiten in der Medienlandschaft beobachtet sie genau. Sie weiß genau, wer, wann und wie über sie kommentiert hat, und wer sie schon als Kanzlerkandidatin für das Jahr 2002 verheizt. Nur so kann Merkel, deren ausgeprägtes Misstrauen bekannt ist, mit der Presse so jonglieren, wie sie es tut.
Natürlich hat sie auch das Spiel um die Schäuble-Nachfolge genauestens seziert. Sie kannte die Widerstände aus der CSU und die aus den eigenen Reihen. Diese ambitionierten Kollegen, die schon mit den Füßen scharren, bevor das Rennen beginnt. Oder die Alten, die sich doch so gern noch einmal bitten lassen würden.
Die Generalsekretärin, die Parteivorsitzende werden möchte, setzte fast unmerklich wieder die Tarnkappe auf, und die Westkonkurrenten haben es nicht gemerkt. So verbrannten sie sich alle selbst – die Rühes, Rüttgers und Vogels. Und die Clique, die kürzlich noch Kurt Biedenkopf ins Rennen schicken wollte, hatte übersehen, dass Machtgeschacher in der Partei derzeit keine Konjunktur hat.
Die Basis ist gefragt. Und von der ließ sich Merkel in den vergangenen Wochen bejubeln. Zunächst noch vorsichtig und den Blick immer mal wieder nach unten gesenkt. Zum Schluss offensiver. Sie hat das Tarnkäppchen wieder gelüpft. Heute wird sie es absetzen.
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