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Anständig aufgeräumt

Man hatte den Wilden gefürchtet, doch statt zu wüten, deutet Stefan Bachmann im Schauspiel Basel den Bürger als problematischen Protagonisten einer Gender-Geschichte

Von TOBI MÜLLER

Wer ganz ohne Not, dreckiges Geld oder Ferienabsichten in die Schweiz kommt, muss etwas im Schilde führen. Erst recht, wenn es sich um einen Schweizer handelt, der zurückkehrt. Shootingstar Stefan Bachmann gehörte letzterer Gruppe an, als er vor gut anderthalb Jahren als 32-Jähriger die Leitung des Basler Schauspiels übernahm. Da hatte er sich zwar bereits von der Freien Szene in die Champions League der deutschsprachigen Theater hochgespielt – Berlin, Hamburg, Wien –, doch seine Platzmanieren waren etwas gefürchtet. Oft liebte er es krass, deftig und reichlich sportlich. Er galt als einer der früh gehypeten Popregisseure. Das kam bestimmt vom vielen Comics-Lesen als adoleszenter Jugendlicher. So einer führt also etwas im Schilde.

Dass ihn die BaslerInnen trotzdem freudig empfingen, mag an ihrer liberalen Tradition liegen, vielleicht aber auch daran, dass Bachmann ein Zürcher ist. Denn zwischen den beiden Städten liegen alte Fehden, an deren Ursprung sich zwar niemand erinnert, die aber trotzdem fröhlich weitertradiert werden. Zwei Jahre bevor Christoph Marthaler nach Zürich zurückkehren sollte, schnappte Basel Bachmann den Zürchern gerade noch weg. Seitdem pilgern immer mehr Zürcher nach Basel ins Theater. Die Kirche im Dorf muss mit keiner nur annähernd vergleichbaren Institution konkurrenzieren. Höchstens mit dem FC Basel, dem es wieder besser geht, seit ihn ein Zürcher Erfolgstrainer betreut. Dass auf Bachmanns Schild aber keine bürgerkriegerischen Gallier eingraviert sind, dass die junge Truppe in keiner Weise den Widerstand gegen den Rest des sie umzingelnden Bildungsbürgertums inszenieren will, das sollte nach fast zwei Spielzeiten nun endgültig klar geworden sein. Doch viele Bürger, so lassen die niedrigen Zuschauerzahlen vermuten, haben noch nicht gemerkt, dass Bachmann im Grunde einer von ihnen ist.

Obwohl gerade in der ersten, mit „Apokalypse“ überschriebenen Spielzeit 98/99 die Jugendschiene zielgerichteter verfolgt als diffuse Millenniumsangst verhandelt wurde, stellte sich bald heraus, was dem kruden Vatermord so alles im Weg stand: Viel gewachsene Regiekunst – mit Bachmann, mit einem fantastischen Andreas Kriegenburg (Hebbels „Maria Magdalene“ als fiebrige Eröffnung), später mit dem Chefdramaturgen Lars-Ole Walburg, dessen „Volksfeind“-Inszenierung zum kommenden Berliner Theatertreffen geladen wurde – vor allem aber viel entschlossene Ensemble-Arbeit. So rasch die eingeschworene Theatergemeinde über einzelne Schauspielstars in spe zu orakeln begann, so rasch erwies sich dies als pure Kaffeesatzleserei im klatschsüchtigen Salon. Nach der jungen Schauspielschulabgängerin Katharina Schmalenberg aus Leipzig gab es da ja auch noch die erfahrene, umwerfend komische Silvia Fenz aus Wien, neben dem Bündner Berserker Bruno Cathomas mit Volksbühne-Gütesiegel stand plötzlich ein kontrollierter Tilo Nest, dann wieder ein entfesselter Jörg Schröder oder die listig grinsende Bettina Stucky. Die Qualitäten des Ensembles sind dermaßen breit abgestützt (breiter, als hier Platz ist), dass eskapistischer Kunstgenuss durchaus als Möglichkeit wieder in Betracht gezogen werden muss. So findet man sich dann erneut im bürgerlichen Salon wieder. Das wird geholfen haben bei der Ernennung zum Theater des Jahres 1999 in einer hoch dotierten Kritikerumfrage der Zeitschrift Theater heute.

Die zweite Spielzeit heißt nun „Bürger“ und darf ruhig als Anrufung verstanden werden, wie sie der (gar nicht bürgerliche) französische Theoretiker Louis Althusser beschrieben hatte. „He, Sie Bürger da!“, ruft also sinngemäß in Basel jemand von hinten, und wir wissen nicht, ob wir damit gemeint sind. Das Perfide daran ist nun, dass es keinen Unterschied macht, ob wir uns umdrehen oder nicht, ob wir die Anrufung anerkennen oder lieber ignorieren wollen: Wir sind gemeint, wir werden dadurch überhaupt erst (hier: als Theatergänger) konstituiert. Wo die Selbstbestimmung aufzuhören scheint (der andere sagt, wer ich bin), fängt die Möglichkeit zur Umdeutung aber erst an. In Basel heißt das konkret: Die Arbeiten der aktuellen Saison legen eine Umschrift des Spielzeitmottos „Bürger“ nahe, die ebenjenen innerhalb einer Geschlechtergeschichte verorten. Aus Bürgern werden Subjekte, die der Gender Trouble ganz schön umtreibt, und aus Bürgern werden meistens – was den Theaterbetrieb auf der Chefetage nach wie vor allzu adäquat spiegelt – Männer.

Männer, die von zu Hause abhauen, allerdings. Wie im Western, dem Bürgergeschichten-Archiv der Neuen Welt. Oder Männer, die in der guten Stube eher Unheil anrichten. Wie überall. Der Antagonismus zwischen den Geschlechtern zieht in Basel mittlerweile tiefere Furchen als jener zwischen den Generationen, ganz zu schweigen von jenem zwischen revolutionärem Subjekt und Klassenfeind. Weil aber nicht nur der Soziologie die Marxsche Übersicht abhanden kommen musste, sondern bekanntlich auch die Geschlechter etwas durchlässiger geworden sind, bevölkern eher Gender-bestimmte Wesen Basels Bühnen. Und wo sich die Gender-Verschiebung nicht anbietet, achtet man darauf, dass die fixierten primären Geschlechtsteile einigermaßen gleich verteilt werden. In Thomas Jonigks „Täter“ (Regie: Bachmann, Jonigk übernahm die Dramaturgie) gibt es ebenso viele Männer wie Frauen, die ihre Kinder zu Hause missbrauchen.

Das Heim als Tatort wird auffällig gemieden in Bachmanns „Sommernachtstraum“ und in Lars-Ole Walburgs umstrittener „Räuber“-Inszenierung. Das Liebesinferno bei Shakespeare nimmt Bachmann ernst: Manche sehen ihn darum wieder wüten, den körpersaftfixierten Comicsleser. Liebe wird mit Blut geschrieben, das ist Krieg. Mitsamt dem Tag danach. Das Spiel im Spiel, das die im ersten Teil noch überschäumende Handwerkergruppe aufführt, interessiert nach den kontingenten Begehrensirrläufen im Zauberwald niemanden mehr. Die athenische Gesellschaft rekonstituiert sich zwar wieder und kehrt an ihren Hof zurück. Doch da legt man sich zu einer Art Permafrost nieder, das Heim ist hier des ewigen Todes. Der verschrieene Effekthascher Bachmann ließ seinen Sommernachtstraum in den letzten zwanzig Minuten – nach virtuosem Lärm – in der bodenlosen Stille, im jäsigen Jenseits enden. Das Jenseits, das der Text noch als Diesseits behauptet. Wer bis zum Schluss bleibt, kann den Abend nicht als bloße Blutorgie konservieren.

Überhaupt dieser Wald (der Westen, das All und andere Zonen, wo es männiglich oft schaurig dürstet, für ein bisschen Kultur und Ordnung zu sorgen): Dahin zieht es auch den guten „Räuber“ Karl Moor. Nur weiß er da mit seinen Kommilitonen von der „Leipzig University“ nichts Rechtes anzufangen. Außer TV gucken und was knabbern dazu. Will Roller den Bubiräubern erzählen, wie er eben nur knapp dem Galgen entkommen ist, stellen die einfach lauter. Währenddessen thront das Heim immerzu in einer schiefen Ebene über der (Kabel-)Waldszenerie. Amalia hält ständig ein Kissen auf die Brust, das Karls Foto zeigt. Ein Bild von einem Mann. Mit Bildern aber sind reale Begegnungen schwierig. Das geht auch hier nur noch im Tod, wenn Karl die Totenmasken verteilt.

Der böse Franz hat es besser: Er weiß um die Verfasstheit der Antagonismen zwischen Vater und Sohn, zwischen Mann und Frau, er weiß auch, wie die Anrufung funktioniert, und kann deshalb mit ihr spielen. Just Franz, dem die Selbstbestimmung auf allen Ebenen abgesprochen wird, nimmt sein Heft selbst in die Hand. Mitten im Satz kann er vom Flüsterton ins Schreien kippen, und wenn er Lust hat, rennt er Amalia mit der Wasser-Pump-Action nach. Mit anderen Worten: Franz ist Fleisch gewordenes Gender, das sich situativ seine (Geschlechts-)Identität aussuchen kann. Aber Franz bleibt vorerst doch ein bürgerlicher Revolutionär, der Aufstand – wenn es denn einer ist – kommt von innen und hat vielleicht mehr mit Taktik als mit Überzeugung zu tun. Dieser Unmöglichkeit der bürgerlichen Revolution ist sich das Theater Basel vermutlich bewusst, wenn es ausgerechnet im Theater den Bürger auflösen will, um ihn als problematischen Protagonisten einer Geschlechtergeschichte zu übersetzen.

Diese Lesart blendet die durchaus vorhandene Stadttheaterkompatibilität der Arbeiten etwas aus. „Antigone“, die aktuellste Schauspielpremiere (unter der Leitung des Opernregisseurs Andreas Homoki, der ab 2002 Chefregisseur an der Komischen Oper Berlin wird) siedelt sich textgemäß in der Familie an, ist ein leichter, intimer Abend und kommt ohne große Regiestemmungen zustande. Andernorts wird diese Behutsamkeit ironisiert. Im ebenfalls behutsamen „Täter“-Abend liefern sich zwei eine Schlacht mit Kartoffelsalat, was auch ein klares Zitat aus Castorfs Volksbühne bedeutet. Nur: Die Sauerei findet neben der modellhaften Drehbühne von Ricarda Beilharz statt und wird von den Schmierfinken gleich selbst wieder weggeputzt. Zwei Spielanleitungen Bachmanns aus den „Täter“-Proben verdeutlichen diese Haltung. „Es geht um Leben, ohne Spuren zu hinterlassen, die Bühne muss bis zur letzten Vorstellung sauber bleiben“, hieß es in der Leseprobe, ein andermal dann: „Ihr müsst die Türen knallen wie verärgerte Abonnenten.“

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