: Verdrängte Geschichte
Nazistische, sozialliberale oder sozialdemokratische Ideologien –die Ursachen der Verbrechen werden in Schweden heiß diskutiert
STOCKHOLM taz ■ „Das verdrängte Erbe des Volksheims“ war eine Artikelserie überschrieben, die vor drei Jahren das vermochte, was andere Medienberichte zum Thema Zwangssterilisierungen in Schweden in all den Jahren zuvor nicht erreicht hatten: sofort eine breite öffentliche Debatte zu entfachen und zu politischen Reaktionen zu führen.
Dass dies so war, hatte damit zu tun, dass der Verfasser dieser Serie, Macjej Zaremba, nicht nur teilweise unbekanntes, umfassendes Faktenmaterial vorlegen konnte. Er hatte auch eine provozierende Antwort auf die Frage, warum gerade die schwedische Demokratie es an ausreichender Abwehr gegen diese massive Aushebelung grundlegender Menschenrechte hatte mangeln lassen. Nicht der „Zeitgeist“, das all-europäische rassistische Erbe, fehlgeleitete medizinische Forschung sollten verantwortlich dafür sein, wie da wie selbstverständlich Menschen in „tauglich“ und „minderwertig“ eingeteilt wurden. Sondern das sozialdemokratische Volksheim-Ideal.
Erst die Ideologie der nordischen Sozialdemokratie, das Wohl des Kollektivs vor das des Individuums zu stellen, habe eine Zwangssterilisierungspolitik entstehen lassen können. Hinzu komme das verstaatlichte Gesundheitswesen, das einen theoretischen Gegenpol nicht zugelassen habe. Dies alles dann noch vor dem Hintergrund des ausgeprägt paternalistischen schwedischen Wohlfahrtsstaatsmodells, welches KritikerInnen von vornherein mundtot gemacht habe. Besonders pervers sei die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg verlaufen, als nicht mehr die vermeintliche Wissenschaft, sondern das öffentliche Budget das Messer geführt habe.
Zarembas Thesen sind teilweise scharf kritisiert worden: Das, was er der Sozialdemokratie in die Schuhe schieben wolle, sei eigentlich bürgerliches Gedankengut. Auch die Verantwortung für stark ausgeprägte kollektivistische Züge in der schwedischen Gesellschaft trügen nicht allein die Sozialdemokraten, hier gehe es um eine geschichtliche Tradition, die ihre Wurzeln im Mittelalter habe. Vor Kriegsende hätten die Sozialdemokraten angesichts der herrschenden Mehrheitsverhältnisse niemals eine eigenständige Sozialpolitik betreiben können. Danach habe man mit einem überkommenen sozialpolitischen Erbe kämpfen müssen. Jedenfalls habe die Sterilisierungspolitik nicht zum Fundament des Wohlfahrtsstaates gehört.
Klar ist jedoch, dass sich die Sozialdemokratie zumindest nicht freimachen kann von einer schweren Mitschuld an der Zwangssterilisierungspraxis der Nachkriegszeit. Mit wenigen Ausnahmen standen nicht rassistische, sondern medizinische oder von einem krankhaften Gesundheits- und Sozialideal getragene Gründe hinter den Beschlüssen der Behörden. Bis hin zur Absegnung der Sterilisierung eines 15-jährigen Mädchens damit, dass es sich häufig in der Nähe von Tanzveranstaltungen herumtreibe. Zaremba: „Wie konnte ein Staat, der glaubte, der humanste der Welt zu sein, einen Weltrekord in der physischen Verstümmelung seiner Mitbürger aufstellen, um das dann ebenso gründlich zu verdrängen?“ – „Wir dachten an die Kinder“, antwortet der damals sterilisierende und jetzt noch praktizierende Erling Rudkilde, der keine seiner „Sterilisierungen bereut und heute dasselbe tun würde“. REINHARD WOLFF
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