: Vielfältige Pilger in der Schorfheide
Der Nordosten, 70 Kilometer von der Hauptstadt entfernt, ist am Wochenende Treffpunkt einer denkwürdigen Mischung von Berlinern
Schon Kaiser Wilhelm, Hermann Göring und Erich Honecker pirschten durch die Wälder der Schorfheide. Das zweitgrößte Naturschutzgebiet der Republik, rund 70 Kilometer nordöstlich von Berlin, war schon seit Jahrhunderten Jagdrevier. Heute jagen dort insbesondere BerlinerInnen ihrer Vorstellung von Wochenendglück hinterher.
Vor der Wende war das nicht nur der Westberliner Bevölkerung nicht vergönnt. Auch der Durchschnitts-Ossi hatte keinen Zugang zur Schorfheide; war das Gebiet doch großräumig umzäunt und der SED-Nomenklatura vorbehalten.
Baden rund um den Werbellinsee und den Grimnitzsee kann heute jeder. Doch mancher nur mit einem wachen Auge. Auch wenn sich der erste Nachwendetrend inzwischen wieder gelegt hat – im Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin sehen nicht nur Familien und Ökofreaks ein lohnendes Ausflugsziel, sondern auch die braune Kultur der Hauptstadt und des Umlands trifft sich immer wieder an den vielen Seen. Direkt nach der Wende war die Gegend sogar Nazi-Kult. Carinhall, die verfallene Villa Görings, benannt nach Görings erster Frau und großer Liebe Carin, galt als Sammelpunkt Ewiggestriger aus der jungen Generation. Und auch die Nazikultstätte zog Badende an – Taucher nach verlorenen Schätzen, von denen mancher glaubte, Göring hätte sie im See versenkt.
Jenseits dieser zwiespältigen Sehenswürdigkeit strahlt die Schorfheide tatsächlich eine große Anziehungskraft aus. So mancher Berliner hat sich bereits zwischen Kloster Chorin und Rheinsberg ein Wochenenddomizil gesichert. Nicht alle suchen sich gleich ein eigenes Häuschen im Grünen, doch der Trend geht zum Hof. Neben dem Ökobauern wurde auch schon ein Westberliner gesichtet, der allem Rinderwahnsinn zum Trotz schottische Hochlandrinder züchtet.
Das mittelalterliche Kloster in Chorin stellt mit seinem backsteinernen Ordenshaus hoch über dem Amtssee und den restaurierten Mönchsgemächern die romantische Kulisse für die traditionellen Sommer-Sinfoniekonzerte im Klosterhof.
Wer den Berliner Zoo und den Tierpark seiner Familie bereits zur Genüge am Wochenende vorführen musste, kann sich auch nach Brandenburg retten: Am Stadtrand von Eberswalde hausen nicht nur 120 Tierarten, hier ist auch ein neues Urwaldhaus mit tropischen Pflanzen und Krokodilen entstanden.
Und dann das Jagdschloss Hubertusstock. Am Nordufer des sagenumwobenen Werbellinsees dinierte schon Hitler mit Mussolini, traf sich einstige SED-Prominenz mit westlichen Politgrößen zu diplomatischen Gesprächen. Heute dient das Schloss als Hotel für die Berliner ohne Wochenendhäuschen.
Nicht unumstritten ist der Wildbestand in der Schorfheide. Auf 90 Hektar bietet der Wildpark zwar seltenen Arten Schutz vor dem Aussterben – etwa Elchen, Wisenten, Auerochsen und Wölfen – doch die Wildschweinvermehrung hat sich eher zur Plage der sensiblen Städter entwickelt.
HANS-JOACHIM SCHLICHTHOLZ
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