: Wo sind die Tibeter geblieben?
China modernisiert Tibets Kultur zu Tode. Durch gezielten Bevölkerungsimport werden die Tibeter imeigenen Land zur Minderheit. Doch dank des Internets können sie den Kulturverlust vom Exil aus bremsen
Die Aufsehen erregende Flucht des jungen 17. Gyalwa Karmapa, Ugyen Trinley Dorje, der zum Jahrtausendbeginn aus Tibet nach Indien entkam (vgl. taz v. 8. 1. 2000), wirft ein Schlaglicht auf die derzeitige Situation in Tibet. Jahrelang galt der 17. Karmapa als Aushängeschild für Chinas Politik gegenüber den Minderheiten und als Beleg religiöser Freiheiten in China. 1992 hatte die chinesische Regierung ihn als „lebenden Buddha“, als wiedergeborenen Lama, anerkannt und seinem Orden Kagyu gestattet, das Kloster Tsurphu (60 Kilometer von Lhasa entfernt) teilweise wieder aufzubauen.
Der junge Gyalwa Karmapa hatte seine Flucht seit zwei Jahren geplant, als die Behörden den Druck auf ihn verstärkten, die Spaltung des Buddhismus zu betreiben und gegen den Dalai Lama Stellung zu beziehen. Seit Jahren beschränkten sie die Zahl der Pilger zu seinem Kloster aus dem In- und Ausland, er konnte die Verfolgung anderer Mönche nicht verhindern, er durfte weder die Schule seines Klosters ausbauen noch die Lehrer und buddhistischen Meister (Rhinpochen) einladen, die er für wichtig hielt. Er saß im goldenen Käfig.
Die Kommunisten in China wollen den Buddhismus als Aberglauben mit leeren Ritualen hinstellen, was nur gelingen kann, wenn die Mönche ihre Philosophie nicht mehr lehren dürfen. Der Kommunismus hat auch in China keine Überzeugungskraft mehr, das macht ihn aggressiv gegenüber anderen Ideen und Überzeugungen. Inzwischen gestehen auch chinesische Statistiken ein, dass die ungefähr 6 Millionen Tibeter im ehemaligen Staatsgebiet Tibets zur Minderheit geworden sind, da die Besatzer einen gezielten Bevölkerungsimport (6,5 Millionen Chinesen) betreiben. Lhasa wurde zur chinesischen Stadt umgebaut, in der der renovierte Potala-Palast, ehemals Sitz des Dalai Lama, als Museum und Touristenattraktion steht. Nicht Tibeter, sondern chinesische Fahnen und chinesisches Militär prägen das Straßenbild, in den Bars und Clubs der neuen Viertel warten tibetische Prostituierte auf Kundschaft nicht nur wegen der wenigen Dollar-Touristen. Der immense Waldreichtum des tibetischen Hochplateaus ist durch Abholzung gefährdet, was klimatische Auswirkungen hat. Nimmt man hinzu, dass Tibet von der chinesischen Armee seit Jahren zum Luftwaffenstützpunkt ausgebaut wurde und die von den Chinesen heruntergespielte radioaktive Verseuchung seit Jahren von örtlicher Anhäufung seltsamer Todesfälle begleitet wird, ist die Frage eines englischen Touristen in Lhasa nahe liegend: „Wo sind die Tibeter geblieben?“ Die chinesische Modernisierung Tibets, die sich China als Verdienst zuschreibt, ist nichts anderes als die Vernichtung Tibets.
Doch die globalisierte Moderne bereitet der chinesischen Zentrale mit der Verbreitung des PC große Schwierigkeiten, besonders wenn es um die weltweite Kommunikation via Internet geht. Diese Kalamität kommt den 130.000 Tibetern im Exil zu gute: Sie nutzen E-Mails und Internet, um mit ihren Familien im besetzten Land in Kontakt zu bleiben und die Verbindung zur Welt nicht wieder abreißen zu lassen. Eine Ironie der Geschichte ist es, wenn nun die offiziell als rückständig gescholtenen Buddhisten via Internet ihre Lehre verbreiten und so Kontrolle und Verbot unterlaufen.
Noch im März sagte der Dalai Lama, er erwarte seine Rückkehr nach Tibet noch in der Zeit seines aktuellen Lebens. Sein derzeitiger Wohnort Dharamsala, Indien und das gesamte tibetische Exil werden jedoch bald mehr an tibetischer Tradition und Moderne bergen, als in Tibet der chinesischen Vernichtung widerstehen kann. RENÉ ODENTHAL
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