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Politische Wärmestuben

Tobias Dürr und Franz Walter analysieren die Zukunft der Parteien in Deutschland: Beste Aussichten haben nur noch CSU und PDS, die mehr verbindet, als sie glauben. FDP und Grüne manövrieren sich selbst ins Aus

von DANIEL HAUFLER

Wo sind nur die Wähler geblieben? Eben mal spekulieren gegangen an den Börsen oder einen draufmachen im Freizeitpark Deutschland oder essen beim Inder ohne Kinder? Und wie erreicht man sie da bloß? Mit Postkarten (Modell: Rüttgers), via E-Mail (Westerwelle) oder durchs Fernsehen (Schröder)? Die Parteien geben bei den Demoskopen Studie um Studie in Auftrag. Vergeblich. In der Politik herrscht die geballte Ratlosigkeit.

Wenn die Poltiker das neue Buch von Tobias Dürr und Franz Walter über „Die Heimatlosigkeit der Macht“ lesen würden, wären sie schlauer – wenn auch nicht glücklicher. Denn die Autoren machen ihnen keine Hoffnung auf baldige Besserung. Im Gegenteil, die Bilanz fällt düster aus: Sowohl SPD als auch CDU haben die Bindung zu ihren sozialen Milieus weitgehend verloren, die FDP schafft sich ohnehin selber ab, und die Grünen eifern ihr darin nach. Lediglich PDS und CSU sind „kraftvolle Parteien“ (Wilhelm Hennis), die mit ihren jeweiligen Heimaten im Osten und in Bayern politisch und gesellschaftlich fest verwoben sind. Dies, so die Kernthese des Buches, ist die unabdingbare Voraussetzung für Parteien zum Überleben. Und genau diese „Heimatbindung“ wird offensichtlich immer schwieriger, da sich die klassischen sozialen Milieus entweder bereits aufgelöst haben oder in Auflösung begriffen sind. Arbeiter oder Arbeitslose im Ruhrgebiet wählen keineswegs mehr stets die SPD oder bürgerliche Katholiken die CDU. Heute ist jeder Wähler irgendwie „ein bisschen sozialdemokratisch, ein bisschen neoliberal, ein bisschen christlich und ein bisschen grün“.

Die Auflösung der Milieus wird, so Dürr und Walter, durch ein Grundmissverständnis unserer Gesellschaft verschärft: Wir leben zwar in einer modernen „Kooperations- und Verhandlungsdemokratie“, aber Politiker und Medien tun gern so, als gäbe es noch charismatische Patriachen, die zielstrebig und kühn politische Projekte entwerfen und durchboxen. Einer wie Adenauer eben oder Helmut Schmidt oder auch, ja, Helmut Kohl. Nur: Weder ist deren Politikstil heute möglich, noch waren sie die großen Macher, zu denen sie im Rückblick verklärt werden. Offenbar werden bei ihnen jedoch die Regierungskrisen, die wirtschaftlichen Fehlentscheidungen und uneingelösten Wahlversprechen (Renten sind sicher!) vergessen, weil sie letztlich ein Gefühl der Sicherheit vermittelt haben. Selbst wenn das nur auf der Ebene der symbolischen Politik erfolgreich geschehen sein sollte, es prägt die Einschätzung der Vergangenheit – und die Erwartungen an die Parteien heute.

Am schwersten hat es damit derzeit die CDU. Das verdankt sie Helmut Kohl – allerdings weniger seiner Parteispendenaffäre als den Reformen, mit denen er die Partei in den Siebzigerjahren modernisierte. Vorher war die CDU im Grunde eine Honoratiorenpartei gewesen, mit einem kleinen Apparat und kaum hauptamtlichen Mitarbeitern. Diese Struktur hatte Adenauer präferiert, ermöglichte sie ihm doch, die Partei relativ ungestört zu lenken. In Wahlkämpfen kam ihm damals zugute, dass im Milieu des politischen Katholizismus viele Menschen sich kurzzeitig für die CDU engagierten und ihr dann vertrauensvoll das Regieren überließen. Diese Struktur war effizient, aber sie brachte auch die undurchsichtigen informellen Netze hervor, aus denen das „System Kohl“ entstand.

Erfolgreich war Adenauers CDU vor allem, weil sie neben dem katholischen Milieu in den Fünfziger- und Sechzigerjahren wichtige Gruppen integrierte: Vertriebene und norddeutsche Protestanten, Bauern und Arbeiter – und vor allem die „alte Mitte“, das konservative Bürgertum. Gemeinsames Fundament dieser Allianz war der Antisozialismus, den die CDU seit ihren ersten Wahlkämpfen erfolgreich propagierte. Die Christdemokraten standen für Verlässlichkeit und Wohlstand – und vor allem für eine maßvolle Politik, die keinen überfordert. Die CDU bewältigte den Niedergang des ersten Sektors, der Landwirtschaft, oder holte Gastarbeiter ins Land, ohne dass es zu nennenswerten Konflikten. Sie besaß genügend Geld und Gespür, um die Ängste der Menschen zu entkräften – und sie vermittelte symbolisch die nötige Sicherheit, nach dem Motto: Es bleibt doch eigentlich alles beim Alten, nur das es bei der Kirchweih jetzt auch Pizza und Döner gibt. Die Erfolge der Union fußten auf der Tatsache, dass die Partei nur modernisierte, wo es unvermeidlich war, aber gleichzeitig die Traditionen ihres Milieus pflegte. Diese Bindung löste sich, als Helmut Kohl mit seinen Generalsekretären Biedenkopf und Geißler der Partei in den Siebzigern eine effektive Organisation verpasste. Aus ihr gingen nun zunehmend Funktionäre hervor, die zwar Kohl bedingslos dienten, aber den eigenen Milieus distanziert gegenüber standen. Diese Ferne zur Basis beschleunigte den Niedergang der Partei.

Modell der Christdemokraten für die neue Organisation der Partei war die SPD. Schließlich arbeitete deren Apparat seit jeher (mehr oder weniger) wirkungsvoll. Überhaupt glichen sich die Strukturen und Geschichten der beiden Volkspartei nach 1945. Auch die SPD war nach dem Krieg wieder fest in ihrem Milieu verankert. Anders als die CDU jedoch öffnete sich die Partei unter Schuhmacher kaum. Ja, die Bürger wurden von dessen Agitationsstil eher verschreckt, der sie an die Weimarer Republik erinnerte. Überhaupt strahlte die SPD wohl eher eine gewisse Muffigkeit aus als die Zuversicht, die Probleme der Gegenwart zu lösen. Diese Wahrnehmung änderte sich erst ab 1959, nach Verabschiedung des Godesberger Programms und mit Willy Brandt als strahlendem Spitzenkandidaten. In den Sechzigerjahren modernisierten er, Wehner und Erler die Partei. Diese Reformer führten die SPD in die Große Koalition und machten sie beim Mittelstand wählbar. Die Partei entdeckte erstmals die gesellschaftliche Mitte für sich – und umgekehrt. Und die traditionelle Wählerschaft? Sie folgte der Partei, zum einen mangels Alternative und zum anderen, weil der Traditionalist Erich Ollenhauer die Reformen bei den Genossen verteidigte, also den Müntefering seiner Zeit spielte, wie Dürr und Walter analysieren.

Letztlich einte Brandts Ostpolitik die Reformer und Traditionalisten in der Partei und bei den Wählern. Dies war ein klassisches sozialistisch-sozialdemokratisches Projekt der Friedensstiftung, das allen am Herzen lag – und die SPD 1972 erstmals zur stärksten Partei im Lande aufsteigen ließ. Wie bei den letzten Bundestagswahlen 1998 vereinte die SPD für einen kurzen Moment eine Allianz von heterogenen Wählern: 1972 siegte ein zukunftsorientiertes Projekt, das zu den traditionellen Werten der Partei passte. Und 1998 siegte die Hoffnung, dass Schröder dem Wursteln der alten Regierung ein Ende setzt und schwungvoll die Gesellschaft auf die Zukunft vorbereitet. Diese Hoffnung verband das klassische Milieu der SPD und die „Neue Mitte“. Nur leider ist das Zukunftsprojekt heute viel diffuser und schwerer zu realisieren als vor 30 Jahren – und die Enttäuschung programmiert.

Für die SPD ist das eine schwierige Lage. Denn sie kann Wahlen nur mit einer solchen Allianz wie 1972 oder 1998 gewinnen. Ihr Milieu hat sich aufgelöst – und das schon seit langem. Das erkennt jeder, der heute einen Schimansky-Tatort aus den Achtzigern wieder sieht. Positioniert sich die SPD allerdings in der politischen und gesellschaftlichen Mitte, wird sie von links und rechts bedrängt. Ein unauflösbares Dilemma, wie Walter und Dürr meinen.

Am erfolgreichtsten stehen derzeit hingegen PDS und CSU da. So viel die beiden Parteien trennen mag, eines verbindet sie: Sie sind die zentralen und unbedrängten Repräsentanten ihres Milieus. Die PDS hat nach Meinung der Autoren selbst dazu relativ wenig geleistet – außer das es sie eben gibt: Seit 1992 liefen die Unzufriedenen aus den verdorrten Landschaften ihr zu, 1994 trieb der CDU-Generalsekretär Hintze mit seiner Rote-Socken-Kampagne ihr weitere Wähler in die Arme und 1998 die SPD, als sie in die „Neue Mitte“ aufbrach. Zunehmend, fast zwangläufig wurde die PDS zu einem der Symbole des Ostens, wie sonst nur die Puhdys oder Hansa Rostock. Dürr und Walter schreiben: „Milieus dieser Art lassen sich weniger politisch als sozialpsychologisch erklären.“ Die PDS ist zur Wärmestube des „Sehnsuchtslands DDR“ geworden – und wird davon noch lange profitieren.

Die Wärmestube des Sehnsuchtsfreistaats Bayern heißt CSU. Im Gegensatz zur PDS hat sie sich ihren Erfolg mühsam erkämpft: Seit 1949 verdrängte sie ihre Konkurrenten wie die Bayernpartei, eroberte das protestantisch geprägte Franken und das sozialdemokratische Schwaben. Dabei pflegte sie ebenso Brauchtum und religiöse Bindungen wie die innovativen Industrien und die Dienstleistungsbranche. Die Parole von Franz Josef Strauß lautete: „Konservativ sein heißt an der Spitze des Fortschritts marschieren.“ Und das gilt bis heute. Allerdings spürt auch die CSU, dass der Spagat zwischen „Hightechoffensive“ und Wallfahrt schwerer wird, denn die Modernisierung der Gesellschaft fordert Verlierer, auch in Bayern. Und: „Verlierer sind keine Stammwähler“, so Dürr und Walter, die der bayrischen Staatspartei den Verlust ihrer politischen Heimat prognostizieren. Nur: Genau das widerspricht ihrer These, dass das Erfolgsrezept der Zukunft die Verknüpfung von Tradition und Modernisierung sei. Egal. Das Ende der CSU-Hegemonie ist sicher noch lange nicht in Sicht, auch wenn die Partei weniger als 50 Prozent der Stimmen erreichen würde.

Wenig Überlebenschancen räumen die Autoren der FDP ein, da sie jegliche Bindung an irgendein Milieu verloren habe. In vielen Bundesländern sei die Partei de facto schon verschwunden. Kaum besser könnte es den Grünen gehen, wenn sie sich weiter aus dem schrumpfenden Alternativ-Milieu entfernt. Zudem fehlt ihr als Generationenpartei der Nachwuchs. Der Zerfallsprozess dieser Partei scheint Dürr und Walter jedoch aufhaltbar, wenn die Grünen etwa mehr ihrer Sympathisanten einbinden würden – und ihr Projekt teilzeitfähig machten.

Diese Analyse der Grünen ist bei aller Präzision und Schärfe von einem gewissen Wohlwollen der Autoren getragen. Ganz anders bei der Beschreibung der FDP: Hier spüren die Leser den Widerwillen der Autoren, sich mit diesen Westerwelles und Gerhardts zu befassen. Hier schreiben zwei Politologen, die zwar meist sachlich bleiben, aber ihre Ansichten durchaus nicht verstecken. Auf diese Weise haben Dürr und Walter ein kluges und kundiges Buch geschrieben, das beim Lesen Spaß macht und überzeugt. Gerne lässt man sich in die Hintergründe der gegenwärtigen Krise der Parteien einführen, lernt viel von deren Wurzeln, die bei CDU und SPD weit ins 19. Jahrhundert zurückreichen. Historiker wird so manche Herleitung der aktuellen Diskurse erschüttern, da die Autoren fröhlich darstellen, ja oft spannend erzählen – ohne allzu sehr auf methodische Trennschärfe zu achten. Da wird mal Intentionsgeschichte geschrieben und dann übergangslos die Rezeption beleuchtet. So manche Behauptung (etwa, dass sich die Organisationen des politische Katholizismus vor denen der Sozialdemokratie formierten) wird forsch aufgestellt, die sich so nicht halten lässt. Zudem nervt schon ein wenig, dass die Autoren immer wieder mit Vokabeln wie „Legitimitätsressourcen“ oder „Sinndepots“ hantieren, ganz zu schweigen von der „teleplebiszitären Publikumsgesellschaft“, die vermutlich doch auf einem anderen Stern lebt. Dennoch: Das Buch von Dürr und Walter macht die Leser schlau. Und die Ratlosigkeit der Parteien wird verständlich – vor allem im Schlusskapitel des Buches. Dort nämlich überlegen auch die Autoren, wie es denn weitergehen kann. Vergeblich.

Tobias Dürr/Franz Walter: „Die Heimatlosigkeit der Macht“. Fest Verlag, 275 Seiten, 39,80 DM.

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