: „Geduldete Besetzer“
Der Literaturwerkstatt in Pankow droht die sofortige Räumung, und der Senat schweigt – ein Gespräch mit Thomas Wohlfahrt, dem Leiter des Hauses
taz: Die Restitutionsansprüche der jüdischen Erben waren lange vorhersehbar. Warum blieb die Frage eines neuen Domizils für die Literaturwerkstatt bis heute ungeklärt?
Thomas Wohlfahrt: Die Gremien des Hauses haben sich sowohl an Radunski als auch an Frau Thoben gewandt. Die Senatsverwaltung beschwichtigte nur und hat an die zentralen Bezirke eine Anfrage gestartet. Das ist neun Monate her – jetzt fürchten wir ein ähnliches Szenario wie bei der Berlinischen Galerie. Anfang Februar 2000 wurde uns mitgeteilt, dass zum 31. 12. 1999 das Hoheitsrecht des Landes Berlin erloschen sei. Jetzt sei die Immobilienfirma zuständig, die von der Jewish Claim Conference beauftragt ist. Wir haben dort wegen Reparaturarbeiten angefragt und hörten mit Schreck, dass sie sich nicht genötigt sehen, etwas zu tun, weil das Land nicht einmal Miete zahlt. Wir befinden uns in einem rechtsfreien Raum, geduldete Besetzer. Kaufinteressenten besichtigen das Haus, das für 2,2 Millionen Mark angeboten wird.
Wäre es denn möglich, dass das Land die Villa in Pankow für die Literaturwerkstatt kauft?
Den nächsten Schreck haben wir bekommen, als wir sahen, dass im Landeshaushalt keine Mittel für Miete oder Kauf angemeldet worden sind. Das ist mindestens fahrlässig: Wie kann man dies Problem, von dem man weiß, es brennt, nicht beim Haushalt anmelden? Deshalb haben wir uns vor vier Wochen an das Parlament gewandt – und seitdem noch nichts gehört.
Haben Sie nicht von Ihrer Seite zu spät Druck gemacht?
Wir haben uns loyal verhalten und wollten mit dem Land zusammenarbeiten. Wir haben verschiedene Immobilien vorgeschlagen, die immer als zu teuer abgelehnt wurden. Für Verhandlungen fehlt uns der Verfügungsrahmen. Wenn man eine landeseigene Immobilie suchen soll, dann braucht man vom Land eine Liste. Darauf warten wir seit über einem Jahr. Oder man müsste einen Finanzrahmen von 200.000 bis 250.000 Mark zur Verfügung haben, um eine entsprechende Immobilie zu mieten – auch das fehlt.
Wie unterscheidet sich Ihr Programm von dem der anderen Literaturhäuser?
Für uns geht es darum, nicht nur das aktuelle Verlagsprogramm abzubilden. Verlage in Deutschland übersetzen zwar viel, aber nur, was sie auch verkaufen können. Wir wissen aber, dass in anderen Sprachen Autoren wichtig sind, die noch gar nicht zu uns gekommen sind. Diese Autoren erstmals in den deutschen Sprachraum hineinzutragen und zu übersetzen, ist unser Ansatz. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Lyrik. Beobachten lässt sich eine Lust am Wort und Bereitschaft, wieder zuzuhören. Gelesen findet Lyrik ein immer größeres Publikum. Wenn ihr Klang und Rhythmus zur Aufführung kommt, trifft das auf bereite Ohren. Das haben wir bei der www.lyrikline.org im Internet gemerkt, wo man Gottfried Benn, Ingeborg Bachmann oder Durs Grünbein hören und lesen kann. Wir hatten in den ersten hundert Tagen über 30.000 Besucher auf der Seite.
Macht der Literaturwerkstatt die selbst organisierte Literaturszene Konkurrenz, in der sich Autoren in Cafés und Kneipen treffen?
Nein, was dort zum Vortrag kommt, ist oft sehr auf den Tag oder aus einer Stimmung geschrieben – keine Texte, die schon ein Arbeitsleben hinter sich haben. Das ist wichtig zur Erprobung, die Medien lieben es, ich gehe auch gerne hin – aber es ist noch keine Literatur. Das kann die Arbeit einer literarischen Einrichtung nicht ersetzen, und für ein internationales Programm fehlen da die Voraussetzungen.
Interview: KATRIN BETTINA MÜLLER
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