: Wie nah ist Sibirien?
Historische Grenzübertritte oder Die Angst der Deutschen vor einem dreibeinigen Wolf
von HELMUT HÖGE
Ende Januar gelang es einem osteuropäischen Wolf, illegal über die Oder nach Deutschland einzuwandern. Er wurde eingefangen und in den Eberswalder Zoo verbracht. Der Tagesspiegel titelte: „Die Angst vor dem Osten oder Sibirien ist unheimlich nah“.
Der Wolf, von den Ostbrandenburgern „Iwan“ genannt, hat nur drei Beine, vermutlich war er zuvor in Polen in eine Wolfsfalle geraten. Das hinderte ihn jedoch nicht, bei Ossendorf ein Rind zu töten und eine deutsche Schäferhündin namens Xena zu schwängern. Zehn Wochen später machte Bild bereits mit einer großen Story über die Geburt der „Mischlinge“ auf, die nach Meinung von „Wolfs-Experten“ sofort getötet werden müssten, weil sie für immer „unberechenbar“ blieben. Die Berliner Zeitung lieferte zunächst zwei Seiten Hintergrundmaterial über den „Todfeind Wolf“ – von Jack Londons „Wolfsblut“ bis zu Hermann Hesses „Steppenwolf“. Dann vermeldete sie – am 14. April – die letzten News: Der Wolf sei immer noch sehr scheu, habe mehrmals versucht auszubrechen und könne nicht mit seinen deutsch-geborenen Artgenossen zusammengelegt werden, weil einer der Männchen des Rudels sich weigere, „Unterordnung zu signalisieren“. Fast eine RAF-Story!
Es ist jedoch eine echt deutsche Blut-und-Boden- sprich: Immobilienlösung für den Wolf gefunden worden: Im Wildpark Schorfheide wird ein 10.000 Quadratmeter großes Wolfsgehege angelegt. „Wir wollten, dass er in Brandenburg bleibt“, erklärte der Präsident des Landesumweltamtes, der für die deutsch-russischen Welpen des Dreibeinigen „Artenschutz“ reklamiert: Sollte es sich tatsächlich um „Halbwölfe“ handeln, dürften sie weder vermarktet noch privat gehalten werden. Ein Gentest wird das klären.
Interessant an dem Ganzen, dass die mediale Aufmerksamkeit, um nicht zu sagen: Panikmache in diesem Fall wie die Berichterstattung über skrupellose Schlepperbanden und mörderische Frauenschänder funktioniert, die immer wieder die Oder-Neiße-Grenze gen Westen überqueren. Hier wirkt immer noch alterprobte Propaganda nach – aus der Konfrontation von Bolschewismus und Faschismus.
Im Karlshorster Kapitulations-Museum kann man derzeit in einer Ausstellung mit Hobbyfotos von Landsern an der Ostfront sehen, wie die Deutschen sich als die widerlichsten Wölfe in Polen und der Sowjetunion benahmen: Neben dem Töten der Zivilbevölkerung hatten sie es vor allem auf das „Requirieren“ von Haustieren abgesehen. Es findet sich im Museum aber auch ein Plakat aus dem Jahr 1919, das zeigt, wie die Sowjets als Wölfe über die Nachbarländer herfielen: „Deutsche schützt die Grenzen gegen die russischen Bolschewisten!“
Ein weiteres Plakat stammt aus der Sowjetunion und zeigt einen riesigen, von den vier Alliierten getöteten Wolf: „So wird es der faschistischen Bestie ergehen!“ Es spielt auf die Vorliebe der Deutschen für scharfe Schäferhunde an, namentlich auf Hitlers „Blondie“. Der Führer selbst ließ sich in seiner „Kampfzeit“ gerne Wolf nennen, sein Hauptquartier in Ostpreußen hieß „Wolfsschanze“, das in Frankreich „Wolfsschlucht“ und das in der Ukraine „Werwolf“ („Wer“ ist das indogermanische Wort für Mann). Die Rangabzeichen der Hitlerjugend bestanden bereits aus „Wolfsangeln“.
Als es mit dem Dritten Reich zu Ende ging, gründete Hitler persönlich im November 1944 – nach dem Vorbild der sowjetischen Partisanen – eine Guerilla- (Kleinkriegs-) Organisation namens „Werwolf“ – als letztes Aufgebot, ähnlich dem „Volkssturm“. Am 1. April 1945 begann der „Sender Werwolf“ sein Programm: auf der vormaligen Welle des nunmehrigen „Deutschlandsenders“. Laut Goebbels sollten die Werwölfe „die Avantgarde des Volkes“ sein.
Die Alliierten gingen sofort mit großer Härte gegen die Mitglieder dieser „Banditenorganisationen“ vor. Marschall Tschuikow erwähnt in seinen Memoiren, dass seine Truppen auch in Berlin noch etliche „Werwolf-Kommandos“ liquidierten. Die Amerikaner reagierten noch paranoischer auf die „Werwölfe“: Weil Eisenhower ihre „Hochburg“ in den Alpen – als „letztes Bollwerk fanatisch-faschistischen Widerstands“ – vermutete (was es ja auch bis heute – bis zu Haider – ist), ließ er seine Truppen nach der Einnahme des Ruhrgebiets nicht wie vorgesehen nach Berlin vorrücken, sondern nach Süden abschwenken.
Historiker kamen später zu dem Urteil, dass den Deutschen im Gegensatz zu den Russen das selbst organisierte Partisanentum sowieso nicht liege, da ihnen quasi die preußischen Tugenden „Gehorsam und Pflichterfüllung“ in Fleisch und Blut übergegangen seien.
Nach der Wende kam jedoch das Wölfische im Deutschen noch einmal brutal hervor: In der Berliner Treuhandanstalt wimmelte es plötzlich von westdeutschen Privatisierungsmanagern, die „Wolf“ mit Vor- oder Nachnamen hießen. „Die benehmen sich schlimmer als Kolonialoffiziere“, meinte selbst Detlev Rohwedder. Ihnen gegenüber standen auf ostdeutscher Seite überforderte Betriebsräte, die nicht selten Friedbert, Christfried oder Lammfromm hießen, einer sogar Feige mit Nachnamen. Das ist kein Witz, sondern ein Fall von Namensmagie im ausklingenden 20. Jahrhundert. Die Manager sind jetzt übrigens längst jenseits der Oder in Osteuropa tätig, das heißt sie privatisieren dort die Wirtschaft kurz und klein.
Währenddessen haben sich Neonazigruppen in Ostdeutschland eine eigene Art von Werwolf-Organisationen geschaffen, die gegen die Besetzung ihres Territoriums durch „Ausländer“ kämpfen. Bei diesen handelt es sich um Asylbewerber, die von der westdeutschen Bundesregierung dort zwangsangesiedelt werden – so wie seinerzeit deutsche Bauern in Weißrussland und der Ukraine. Diese wurden im Übrigen dann ebenfalls alle von einheimischen Partisanen ermordet bzw. so eingeschüchtert, dass die wieder nach Westen – ins Reich – zurückwichen.
Der Kampf geht weiter, Wolf gegen Wolf. Die traurige Geschichte des Dreibeinigen zeigt in diesem Zusammenhang nur, dass Politik und Wirtschaft zu verlogen sind, diesen Kampf direkt zu thematisieren – und deswegen das Feuilleton einspringen muss: mit seiner ganzen geballten konkretistischen Blödheit.
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