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Willkommen am Times Square

Wer im Glashaus sitzt, soll nicht schießen: Das New York Police Department macht dem Senatskandidaten Giuliani Probleme

von ELISABETH BRONFEN

Direkt am Times Square, dort, wo 7th Avenue und Broadway sich kreuzen, werben mit ihren Billboards und Leuchtreklamen nicht nur Warner Bros., Panasonic und Budweiser. Im Erdgeschoss befindet sich auch ein nach vorne in den Platz hineinragendes einstöckiges Gebäude, dessen Front sowie das vordere Drittel der beiden Seitenwände, gänzlich aus Fensterglas bestehen. Auf der weißen Wand, mit der dieses transparente Haus an den Wolkenkratzer dahinter anschließt, kann man in schwarzen und blauen Buchstaben die Botschaft lesen: „Welcome to Times Square ... NYPD.“

Die meisten New Yorker können sich kaum an diese Polizeistation erinnern. Vielleicht, weil sie trotz ihrer Lage neben den bunten Schaufenstern und den hohen Häuserfronten fast unscheinbar wirkt. Vielleicht aber braucht es auch den Blick des fremden Besuchers, um die symbolische Geste bewusst zu goutieren. Denn diese Begrüßung, die der Großstadtbewohner in seiner Alltagshektik gar nicht wahrnimmt, gilt vornehmlich dem Touristen, der nach dem Besuch einer Broadway Show bei Lindys noch ein Stück Cheesecake verzehrt oder der nach einem Drink hoch oben im Marriott-Hotel noch gerne ungestört im HMV-Megastore nach CDs stöbern will. Ihm sollen die Glaswände uneingeschränkten Einblick in den Innenraum und somit den beruhigenden Blick auf jene urbane Soldaten gewähren, die unter der Schirmherrschaft des New Yorker Bürgermeisters Giuliani so erfolgreich ihren Krieg gegen die Kriminalität geführt haben.

Die allgegenwärtige Macht des Gesetzes

Die Touristen sind am berüchtigten Times Square willkommen, so die eigentliche Botschaft, weil sie, seitdem das NYPD (New York Police Department) diesen neuralgischen Knotenpunkt Manhattans besetzt hat, dort auch tatsächlich vor jeglichen Belästigungen durch Straßendiebe, Drogendealer, Crackheads oder Prostituierte sicher sind. Man ist geneigt, an den Entwurf des britischen Utilitaristen Jeremy Bentham zu denken, der sich als perfektes Gefängnis ein Panoptikum ausgedachte: Ein rundes Gebäude mit einem abgedunkelten Wächterturm im Zentrum, von dem aus die Gefangenen permanent beobachtet werden können. Während sich nun der Sträfling in Benthams Überwachungsszenario gerade deshalb den Regeln der Disziplinierungsanstalt unterwirft, weil er den Blick des Wächters, den er eigentlich nicht sehen kann, internalisiert hat, glaubt der Besucher des Times Square an die allgegenwärtige Macht des ihn beschützenden Gesetzes, weil sich dessen Vertreter seinem Blick uneingeschränkt anbieten. Die hier architektonisch gesetzte Geste ist der allgemeinen Devise Giulianis entsprechend präventiv. Die explizit inszenierte Überwachungsmaschinerie verkündet allen, die mit redlichen oder unredlichen Absichten diesen Platz besuchen: „Ihr könnt sehen, dass wir euch sehen!“

Bezeichnend an dieser zum mythischen Zeichen des von Fremdkörpern gereinigten New Yorker Alltags erhobenen Polizeistation ist zudem, wie nahtlos sie sich in die Kommerzialisierung des Times Square eingliedert. In blauer und rosa Neonschrift leuchtet das Label „New York Police Dept.“ als wäre es nur eine unter vielen Werbungen für ein Produkt, das im Innern des Gebäudes verkauft wird. Und vielleicht ist auch die Nähe zum beleuchteten Warenzeichen der Warner Bros. und den wechselnden Filmplakaten, die direkt über dem Logo der Polizei ragen, gar nicht so abwegig. Spielt doch das NYPD seit der Geburt des Kinos eine zentrale Rolle in Hollywoods Träumen von Lust und Leid des Großstadtlebens. Auch die Wahl des Ortes für dieses Symbol der allgegenwärtigen Macht des NYPD ist alles andere als zufällig. Die Säuberung des Times Square von Pornoläden und seine Umgestaltung durch Konzerne wie Disney World war einer der prägnantesten Eingriffe Giulianis in das von Korruption und Kriminalität belagerte New York der frühen Neunzigerjahre. Seitdem an jeder Häuserfront nachts gigantische Lichtreklamen funkeln und es dort demzufolge vierundzwanzig Stunden lang hell ist, wurde der Times Square zum Inbegriff eines ganz besonderen Fortschrittsgedankens: Er kündet vom architektonischen Sieg über die Finsternis der Nacht. Diese wurde von der westlichen Kultur immer als dunkler Kontinent konzipiert, als Ort des Triebhaften und Unbeherrschbaren. Mit der Erfindung der Elektrizität konnte die Nachtseite der Welt zwar bedingt ausgeleuchtet und somit stückweise auch erobert werden. Doch es blieben immer dunkle Flecken, in die das Licht der Aufklärung nicht dringen wollte. Diese Nachtseite der Welt wird bis heute in unserem kulturellen Bildrepertoire vornehmlich durch zwei den weißen Bürger bedrohende Figuren zum Ausdruck gebracht: die unzähmbare, sexualisierte Frau und den gewalttätigen schwarzen Mann der Unterschicht. Man denke nur an Sarastros Verbannung der Königin der Nacht samt ihres schwarzen Dieners Monostatos aus dem Tempel der Weisheit in Mozarts „Zauberflöte“.

Von der schillernden Kodierung der Nacht als gefährlichem, aber gleichzeitig auch faszinierendem Ort lebt natürlich unsere ästhetische Faszination für die Nächte der Großstadt. Dort finden die bürgerlichen Protagonisten aus Scorceses, Lynchs oder Kubricks Filmen jene verführerischen Frauen und jene aufregenden Verbrecher, nach denen sie sich in ihrem hellen, vernünftigen Alltag sehnen, obgleich sie – wie Travis in „Taxi Driver“ – auch davon träumen, ein Regen möge den Dreck und den Müll vom Bürgersteig wegspülen. „Let’s take back the night“ forderten die Feministinnen in den späten Siebziger- und Achtzigerjahren bei ihrem Kampf um uneingeschränkte Bewegungsfreiheit.

Als Rudolph Giuliani die SCU (Street Crime Unit) nach seinem Amtsantritt von 150 Zivilpolizisten auf 400 erweiterte, wobei die Rekruten oft nur ein dreitägiges Intensivtraining erfuhren, schien der Traum von Scorceses geistig umnachtetem Taxifahrer verwirklicht. Mehr als zwanzig Prozent aller Verhaftungen von bewaffneten Tätern gingen auf die Einsätze dieser Eliteeinheit zurück, die keinem Polizeirevier angehörte. Von ihrem Hauptquartier auf einer der Inseln im East River ging sie hartnäckig jede Nacht ihrem Auftrag nach, jede verdächtige Person zu durchsuchen. Die Parole: „We own the night!“ Die Mordrate sank tatsächlich drastisch. Doch der Erfolg der SCU hatte auch seine sozialen Kosten. Auf 45.000 der in den letzten zwei Jahren durchsuchten Menschen – meist afroamerikanische oder hispanische Männer – kamen nur etwa 9.000 Verhaftungen.

Einundvierzig präventiv abgefeuerte Schüsse

Wie der Tod des westafrikanischen Einwanderers Amadou Diallo am 4. Februar 1999 zeigte, wohnte dem berüchtigten Anliegen des Bürgermeisters, die Kriminalität der Stadt um jeden Preis zu vermindern, eine unhinterfragte Kolonialisierungsfantasie inne. Der letzte dunkle Kontinent, die finsteren Straßen der nicht durch Lichtreklame ausgeleuchteten Bronx und der dunkle Körper des Schwarzen Mannes, in dessen Hand ein schwarzes Portmonee so leicht mit einem Revolver verwechselt werden kann, verschränkten sich in jenem tragischen Augenblick, als vier weiße Polizisten präventiv einundvierzig Schüsse abfeuerten. Auf Grund ihrer von rassistischen Vorurteilen geprägten Wahrnehmung konnten sie den auf der Schwelle zu seiner Wohnungstüre zögernden Mann scheinbar nur als Verkörperung der nächtlichen Gefahr begreifen.

Im Umfeld der Gerichtsverhandlung, die ein Jahr später mit einem Freispruch der Angeklagten endete, blieb die zentrale Frage unbeantwortet. Was an der nächtlichen Erscheinung des jungen afrikanischen Immigranten war es, das die Aufmerksamkeit der vier Polizisten überhaupt geweckt hat? Und war es Lust oder Furcht, die sie zu der fatalen Fehleinschätzung ihrer eigenen Gefährdung verleitete?

Dieses Rätsel musste den Besucher des Times Square auch nach den Protestaktionen, die das Ereignis nach sich zog, nicht beunruhigen. Die gefährliche Nacht schien weiterhin, wenn nicht gänzlich erobert, zumindest glücklich in die Grenzgebiete der Stadt verlagert. In der Bronx darf es dunkle, schmutzige und gefährliche Straßen geben, die vom Regen der neuen Regierung noch nicht gesäubert wurden. Solange dort keine Body Shops und Starbuck Coffeeshops eröffnet werden, sucht der Tourist diese Schauplätze sowieso nicht auf – allenfalls die Kinosäle auf der 42ten Straße.

Erst die Tötung eines weiteren afroamerikanischen Mannes, die sich wenige Wochen nach dem Urteilsspruch ereignete, vereitelte jegliche Entlastungsfantasien der Bürger New Yorks. Als der junge Wachschutzangestellte Patrick Dorismond auf dem Bürgersteig vor einer Bar, wo er mit seinem Kollegen nach der Arbeit zum Trinken gegangen war, auf ein Taxi wartete, befand auch er sich auf der 42ten Straße, wenige Blocks vom Times Square entfernt. Die Nacht war noch gar nicht richtig angebrochen, als ein Zivil gekleideter Polizist versuchte, ihm Rauschgift zu verkaufen, um noch eine letzte Verhaftung vor Feierabend durchzuziehen. Dorismond wehrte das Angebot jedoch entschieden ab und wurde stattdessen handgreiflich. Detective Vasquez, der den unbewaffneten Mann mit einer einzigen Kugel tötete, weil er den kodierten Hilferuf seines Mitarbeiters falsch verstanden hatte, konnte dem zu Folge auch nicht wie seine Kollegen des mittlerweile aufgelösten SCU behaupten, er sei von der Dunkelheit der Nacht behindert gewesen.

Als Antwort auf diesen Vorfall, der nicht nur bei der schwarzen Gemeinde New Yorks auf heftige Entrüstung und Unverständnis stieß, zögerte Bürgermeister Giuliani nicht, den Fall wieder ins richtige Licht zu rücken. Nicht etwa indem er sich bei der Familie des Verstorbenen entschuldigte. Auch forderte er keine Untersuchung des Einsatzes von Undercover-Agenten bei der Bekämpfung von drogenbezogener Kriminalität. Im Gegenteil: Jede Kritik am NYPD wurde als böswillige Hetze abgetan. Um das Opfer in ein schlechtes Licht zu stellen, und Detective Vargas rückwirkend zu entlasten, veröffentlichte er stattdessen die Akte, in der die jugendlichen Delikte des Verstorbenen aufgezeichnet waren.

Nicht die eigentliche Tötung, von der ein weiteres Gericht erst noch feststellen muss, ob sie zufällig, fahrlässig oder absichtlich erfolgt ist, sondern der Versuch, Patrick Dorismond nachträglich zu diskreditieren, hat dazu geführt, dass sich an diesem Ereignis die entscheidende Wende im Kampf zwischen Hillary Clinton und Rudolph Giuliani um den Senatorensitz abzeichnen könnte. Vielleicht, weil sich fast jeder Bewohner Manhattans vorstellen kann, selbst an einem Frühlingsabend vor einer Bar an der 42ten Straße zu stehen und auf ein Taxi zu warten. Und weil der Vorfall eben nicht mehr so eindeutig dem Bereich der gefährlichen Nacht zugeschrieben werden kann, stellt sie Giulianis bedingungslosen Kampf gegen die Kriminalität in ein unvorteilhaftes Licht. Einen Monat nach dem Freispruch im Fall Diallo zeigen Meinungsumfragen, dass fünfzig Prozent der New Yorker die Art missbilligen, mit der ihr Bürgermeister die Frage der Kriminalität handhabt. Der Fall Dorismond lässt sich eben nicht so leicht als Nachtgespinst abtun, hat er doch viel zu nah an jenem Ort stattgefunden, an dem die gläsernen Wände des einstöckigen NYPD-Gebäude als Symbol dafür einstehen, dass die Bewohner Manhattans direkten Einblick in die Handlungsweisen der Polizei haben dürfen.

Die Videokünstlerin Pippilotti Rist zeigt bis zum 20. Mai am Times Square auf dem Panasonic Bildschirm, der wenige Meter über der Lichtreklame der NYPD ragt, ihre Videoarbeit „Burn For Me“. Es sind Nahaufnahmen vom verzerrten Gesicht einer Frau, die sich gewaltsam gegen eine Glasscheibe presst, als wolle sie aus diesem Gefängnis ausbrechen; aber auch Aufnahmen von einem Fernsehapparat, der von Flammen verzehrt wird, und von einem Ohr, das durch das hindurchscheinende Licht wie transparent wirkt. Die Installation zelebriert ganz bewusst eine Störung im medialen Bild, die Möglichkeit, aus den Zwängen einer zur Lichtreklame gewordenen Welt auszubrechen. Gleichzeitig feiert sie die schillernde Faszination, die für uns vom eingerahmten Fernsehbildschirm, auf dem gewaltsame Bilder aufflackern, ausgeht. Auf ihre Anfrage an alle anderen Firmen, die über oder unter ihrer Installation für ihre Produkte werben, ob sie nicht zu ihrer Website einen Link herstellen wollen, sagte als erste das NYPD ab.

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