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Der Alte lächelt immer freundlich

Vor 56 Jahren wurde Luigi Ferrini zur Zwangsarbeit nach Deutschland entführt. Entschädigt hat ihn bis heute niemand

von PHILLIP MAUSSHARDT

Luigi Ferrini stand auf der Wiese nahe seinem Elternhaus, als am 4. August 1944 ein Kübelwagen der deutschen Armee auf dem Feldweg neben ihm anhielt und zwei Wehrmachtsoldaten ihn mit vorgehaltener Waffe aufforderten, einzusteigen. Luigi Ferrini war gerade 18 Jahre alt geworden und der Krieg schien in einigen Tagen vorüber. Gleich hinter dem ersten Bergrücken von Casoli bei Talla aus, dort, wo er wohnte, lag die Front. Und Arezzo, die nahe toskanische Provinzstadt, war bereits von Engländern und Amerikanern befreit. Aus den wenigen Worten Italienisch, die die deutschen Soldaten mit ihm sprachen, folgerte der 18-jährige Bauernsohn: „Sie brauchen mich für irgendeine Arbeit.“ Im Prinzip hatte Luigi Ferrini richtig verstanden: Doch es ging nicht in den nächsten Ort, um einen Graben auszuheben. Es ging in einem Güterwaggon nach Deutschland in ein Arbeitslager zur Zwangsarbeit.

Ferrini war ein Pechvogel, zur falschen Zeit am falschen Ort

Luigi wurde regelrecht entführt. Als ihn seine Eltern nach mehr als einem Jahr wieder sahen, lag er schwer krank in einer Klinik und sah aus wie ein Skelett. Die Haut auf seinem Rücken war von den vielen Stock- und Peitschenhieben vernarbt.

Vor inzwischen fast 50 Jahren, als die Wunden verheilt waren und Luigi Ferrini wieder laufen konnte, hat er schon einmal in Deutschland angefragt, ob für die Prügel, für den Hunger und für die Sklavenarbeit beim Tunnelbau unter einem Flugplatz im thüringischen Kahla nicht eine Entschädigung vom deutschen Staat bezahlt werde. Nein, hat man ihm bedeutet, nicht bei ihm. Nur wer aus „politischen, religiösen oder rassischen Gründen“ verfolgt war, hatte Anspruch auf Entschädigung. Doch Ferrini war kein Jude, war kein Partisan und kein Zeuge Jehovas. Er war nur ein Pechvogel, hatte am falschen Tag an der falschen Stelle gestanden.

Jetzt hat Ferrini wieder Hoffnung geschöpft. In der Zeitung hat er davon gelesen, dass Deutschland den ehemaligen Zwangsarbeitern eine Entschädigung bezahlen will. Dabei wissen nur die wenigsten in seinem Dorf Talla von den furchtbaren Leiden ihres Mitbürgers Ferrini in diesen Tagen. „Ich schäme mich bis heute, davon zu erzählen“, sagt er. Denn auf dem kleinen Dorfplatz waren nach seiner Rückkehr andere die „Helden“ – die bei den Partisanen oder bei den Faschisten gekämpft hatten: Menschen mit „Überzeugungen“ jedenfalls. Für die Ferrinis, die Pechvögel der Geschichte, hatte man allenfalls Spott, aber kein Mitleid übrig. Nach den blonden Mädchen in Deutschland hat man ihn häufiger gefragt als nach den Stockschlägen. Ferrini entschied sich zu schweigen.

Zu schweigen über die Schufterei von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, für die er täglich eine Zuckerrübe und ein Kilo Brot erhielt, das er mit sechs Gefangenen teilen musste. Viele starben vor Hunger und Entkräftung. Zu schweigen von den Bestrafungen. Weil Ferrini versuchte, heimlich Lebensmittel zu organisieren, sperrten ihn die Deutschen insgesamt dreimal in ein „Straflager“. Dort hetzte man Hunde auf ihn und peitschte ihn aus.

Der 73-jährige Rentner Ferrini ist ein eher schüchterner Mann. Seine monatliche Rente von knapp 800 Mark bessert er sich durch Gartenarbeiten bei ausländischen Toskana-Touristen auf. Die Deutschen, denen er heute für ein paar Lire den Rasen mäht, den Swimming-Pool reinigt oder die Kiesauffahrt zu ihrem Landhaus recht, wissen nichts von seiner Geschichte. Der alte Mann lächelt immer freundlich.

Dem deutschen Gast gegenüber entschuldigt sich der Rentner Ferrini in seiner kleinen Küche sogar dafür, dass er nicht Kaffee kochen kann, dass es, obwohl alles spiegelblank ist, etwas unordentlich sei, seit seine Frau gestorben ist, und dass er keinen Wein im Hause hat. Aber dann findet er doch noch einen Whiskey, den ihm „die Ausländer“ geschenkt haben, weil er so vorbildlich auf die Ferienanlage aufpasst.

Wie als ob die Deutschen das Schicksal dieses Mannes wären, brachte ihn der Zufall eines Tages mit dem deutschen Rechtsanwalt Joachim Lau zusammen, der nicht weit von Ferrini entfernt seit nunmehr fast 20 Jahren auf einem entlegenen Hof lebt. Ihm gegenüber erzählte Ferrini von seinen erlittenen Torturen, und Lau verklagte 1998 die Bundesrepublik Deutschland „vertreten durch den Bundeskanzler“ auf Wiedergutmachung. Offiziell hat diese Klage die Bundesrepublik Deutschland jedoch nie erreicht. Das Auswärtige Amt weigerte sich bis heute, die Klage überhaupt entgegenzunehmen. Nicht einmal dem italienischen Botschafter in Berlin gelang es, die Akte „Ferrini“ an die Bundesregierung weiterzureichen. In einer „Verbalnote“ an die Botschaft der Republik Italien wies das deutsche Außenministerium im Dezember 1999 alle Schriftstücke in der Angelegenheit „Ferrini“ zurück, „weil eine Erledigung der Zustellung der Klage die Bundesrepublik Deutschland in ihren Hoheitsrechten gefährden würde“. Der Brief endet mit dem diplomatischen Hinweis, dass „das Auswärtige Amt diesen Anlass benutzt, der Botschaft der Republik Italien erneut seine ausgezeichnete Hochachtung zu versichern“.

Dennoch wird der Fall Ferrini vor einem Provinzgericht in Arezzo verhandelt. Weil die völkerrechtswidrige Entführung auf italienischem Boden stattfand, hält sich das dortige Landgericht für zuständig. Verhandelt wurde bislang in Abwesenheit des „Beklagten“, vertreten durch Innenminister Otto Schily (SPD), der bislang auf die Ladung vor das Landgericht in Arezzo nicht reagierte. Schilys Feriendomizil dagegen liegt nicht weit von der toskanischen Provinzstadt entfernt. Erst in der vergangenen Woche beauftragte die deutsche Botschaft in Rom eine Anwaltskanzlei mit der Wahrnehmung ihrer Rechte. Die Anwälte beantragten, das Verfahren erst gar nicht zuzulassen.

Der Prozess wird in Italien von den Medien mit Interesse verfolgt, denn so weit ist bislang kein ehemaliger Zwangsarbeiter gegangen. Von mehreren hunderttausend Anträgen italienischer Staatsbürger auf Entschädigung wurden in den 60er-Jahren gerade einmal 14.500 als „berechtigt“ angenommen. Jeder dieser anerkannten Zwangsarbeiter erhielt bei Erreichen des 65. Lebensjahres 30.000 Lire (30 Mark) Aufschlag auf seine Pension.

In dem jetzt von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf für eine „Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ winkt Luigi Ferrini immerhin die Aussicht auf 1.750 Mark Entschädigung. So viel soll Zwangsarbeitern ausbezahlt werden, wenn sie sich schriftlich verpflichten, damit auf alle weiteren Forderungen gegenüber deutschen Unternehmen oder dem deutschen Staat zu verzichten. Verhandlungsführer Otto Graf Lambsdorff hatte nach dem zähen Ringen mit allen beteiligten Opferorganisationen wohl zu Recht geunkt: „Niemand wird mit diesem Ergebnis zufrieden sein.“

„Dafür, was dieser Mann erlitten hat, ist das ein schlechter Witz“, sagt Anwalt Lau. Er will einen Antrag „auf eine angemessene Entschädigung stellen, die weit darüber liegt“.

Das Urteil aus der italienischen Provinz wird in Deutschland wohl nicht anerkannt werden. In diesem Fall will Anwalt Lau die Entscheidung von einem Gericht in Brüssel rechtlich anerkennen lassen, und er droht: „Dann pfänden wir eben dort die deutschen Agrarsubventionen.“

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