: Nichts bei uns als Worte
Von Finnland aus die Heimat suchen. Déjà-vu-Erlebnisse voller Sehnsucht und Schwermut. „Vom Eisgebreit“ – die eiskristallene Lyrik der Dorothea Grünzweig
„Es schreibt sich nichts / weil es zu helfen weiß / es ist nur das Gedicht / ein Sehschlitz durch den / Klarheit scheint“. Auch die wenigen poetologischen Zeilen in Dorothea Grünzweigs zweitem Gedichtband „Vom Eisgebreit“ erschließen sich nicht von selbst. Sprache und Sprachlosigkeit ist eines ihrer Themen, doch es ist stets eingebettet in die spezifische Situation einer Deutschen, die in Finnland lebt. Ihre Gedichte versuchen eine Verbindung zwischen diesen Welten herzustellen – in Bildern der Reise, Ferne und Heimat: „Suomi Saksa Seite an Seite“. Nicht nur die fremde Landessprache, auch der Versuch einer Heimkehr durch Einbildungskraft fasziniert an der in Schwaben Geborenen, die „Heimat“ für sich gerettet sieht, weil sie die Ostsee dazwischenbringen konnte.
Finnland, das unverstandene, frostige Land, stellt Dorothea Grünzweig als atmosphärische, kristallklare und grimmig kalte Gegend vor. Winter und Eis sind ihre Chiffren, Kältemetaphern ihr Handwerkszeug. „Thema in Polar-Dur“ heißt ein Gedicht, doch es sind Molltöne, die hier vorherrschen. Und wie sich zum Schnee die Sauna gesellt, wächst in der Kälte die Wärme. Die Affinität dieser Dichterin zur Wahlheimat wird auch explizit: „Mir ist der Winter eingegeben“. Nicht aber verbindet sich mit diesen Naturbildern pure Naturlyrik, sie wecken Erinnerungen und Assoziationen zumeist an die Jugend. Als ein „Hinausfliegen aus der engen Szenerie des Jetzt“ beschreibt Grünzweig an anderem Ort ihre Jugend, mit der auch die Familie auf verklärte Weise in die Gegenwart projiziert erscheint. „Von der Mutter ein Gruß“ wird liedhaft erwartet, eine „Auslandstochter“ nennt sie sich selbst, und ihre Gedichte stellen „Sohnmütter“ und „Goldbrüder“ vor.
Doch Dorothea Grünzweig blickt in ihrer Lyrik nicht nur auf sich selbst und ihre Familie; sie blickt von sich, aus sich heraus, auch auf ihr Fremdsein, ihr Deutschsein, auf Hitler und die Strafinsel Seili etwa. Es sind diese „heimtückischen Atemwege / die herausführen / aus dem Versteck“ des Ich, die Erinnerung und die Phantasie. Dass aber zwischen der Romantik und dem Jahr 2000 die literarische Moderne liegt, ist nicht spurlos an einer Dichterin vorbeigegangen, deren Forschungsgegenstand einst Gerard Manley Hopkins war. An ihn gemahnt der sprunghafte Rhythmus und der Blick auf eine Natur, deren Einheit (Hopkins' „instress“ und „inscape“) göttlichen Charakter offenbart. Dieser Erfahrung tritt ein pietistischer Zug entgegen, der zurück auf das Ich und seine Worte blickt. Dorothea Grünzweig hält am Subjekt fest und nimmt den Regenbogen mit seinem Trostcharakter in ihre erdimmanente Sicht hinein als Versprechen der Poesie. Einen „hohen Sehnwert“ schreibt sie ihren Gedichten zu, die weniger göttlich als metaphysisch aufgeladen sind.
Nichts als Schnee, nichts als kalte Worte enthält ihr Gedicht „Wintererstling“. Gibt es ein kälteres Wort als „astkraus“? Hier liegt alles unter Schnee. Schnee gleicht an, vereinheitlicht, demokratisiert die Oberfläche. Und diese Tendenz führt konsequent in die Jugend zurück, denn die optische Ebenmäßigkeit des Ortes führt zwangsläufig zur gedanklichen Ebenmäßigkeit der Zeit. Wo aber alles eins ist, wird Kartographie obsolet; die Kompassnadel tritt an ihre Stelle, da sie auf etwas dem Menschen Verschlossenes verweist, über seine Sphäre hinausweist. Darin liegt ein Versprechen: das „schneebrach“ (wieder diese Kälte im Wort) wird am Ende verneint. Irgendwann wird auch wieder Zeit für einen Frühling sein.
So sind Dorothea Grünzweigs Gedichte: nur Worte, nur Inhalt, keine formalen Spielereien. Die Sprache formt sich selbst und wird geformt von den eiskristallklaren Bildern, die das Auge anstürmen – aus der Welt, aus dem Gedächtnis, im Rhythmus eines Dia-Abends. Es sind Déjà-vu-Erlebnisse voller Sehnsucht und Schwermut, denn das Schlechte und das Gute verblassen nicht. Die Jugend fungiert als Gegenbild, als Paradiesprojektion, und aus der Hoffnung erwächst Wärme. So wird Finnland, das taubstumme Land, zu Gehör gebracht.
Nimmt man den ersten Gedichtband „Mittsommerschnitt“ hinzu, an den „Vom Eisgebreit“ mit dem ersten Wort „Und“ anknüpft, fällt auf, dass die neuen Gedichte fast durchweg länger sind; kaum eins lässt sich auf eine Seite begrenzen. Die Fülle der Eindrücke hat also zugenommen, und doch ist eine Beschränkung spürbar, denn es sind gewachsene, reife Gedichte. Ihre Lyrik ist Arbeit – Erinnerungsarbeit und Arbeit am Wort: „Es fällt ein Stein mir zu / Gedicht genannt ich / habe viele Steine“.
RÜDIGER WARTUSCH
Dorothea Grünzweig: Vom Eisgebreit. Gedichte. Wallstein, Göttingen 2000. 104 S. 28,- DM.
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