Das Ohr der Stasi

von FRANK ROTHE

Wenn Horst Männchen grüßt, reißt er den rechten Arm nach oben und legt die Handkante an die Stirn, so als befände sich dort noch immer der Schirm einer Militärmütze. Zackig nickt er seinem Gegenüber zu, wobei er den Kopf nur um wenige Millimeter senkt. Der 65-jährige Generalmajor a. D. des Ministeriums für Staatssicherheit ahnt die Bedeutung, die ihm in diesen Tagen beigemessen wird. Parteiübergreifend wird derzeit über die Akte Kohl und deren möglichen Einsatz als Beweisstück in der CDU-Parteispendenaffäre debattiert – obwohl sie bislang nicht aufgefunden wurde, geht man davon aus, dass sie mehrere tausend Seiten umfasst. Horst Männchen ist der Mann, über dessen Schreibtisch mehr als 30 Jahre lang alle vom MfS aufgezeichneten Abhörprotokolle aus West-Berlin und der Bundesrepublik liefen, auch die von Kohl.

Der einstige Chef der 3 000 Mann starken Hauptabteilung III, zuständig für den „elektronischen Kampf“, wohnt heute in einem Mehrfamilienhaus am Rande von Berlin. Kantige Brille, kantiges Gesicht. Auf den ersten Blick wirkt Männchen wie ein pensionierter Mathematiklehrer. Doch der harmlose Eindruck täuscht. Ein ehemaliger Kollege beschreibt Männchen als ehrgeizig und despotisch. Seit 1961 wird er „der Einarmige“ genannt. Sein unmittelbarer Vorgesetzter Erich Mielke, Minister der Staatssicherheit, brachte einst die Legende in Umlauf, dass Männchen der linke Arm im Spanienkrieg abgeschossen worden sei. Allerdings war Männchen 1936 gerade mal ein Jahr alt. Er soll betrunken Auto gefahren sein, dabei sei es passiert, sagt ein ehemaliger Kollege. „Ich habe meinen Arm beim Fahren aus dem Seitenfenster herausgehängt“, sagt Männchen selbst. Von der Stoßstange eines entgegenkommenden LKWs sei er ihm dann weggerissen worden. „Der lag dann auf der Straße und war ab“, sagt er – als hätte er nur seine Armbanduhr verloren.

An diesem Tag veränderte sich vieles für den damals 26-Jährigen. Beim Betrachten älterer Fotos fällt auf, dass er sich fast immer mit dem leeren Ärmel seiner Uniform hinter dem Vordermann versteckt: „Ich kam mir damals unvollkommen vor, wie ein halber Mensch, und hatte das Gefühl, besser sein zu müssen als alle anderen.“ Sein größter Wunsch war es, der HVA (Hauptverwaltung Aufklärung) des Markus Wolf unterstellt zu werden. Doch Wolf wollte Männchen nicht.

Männchen hat es sich auf der breiten Ledercouch im Wohnzimmer bequem gemacht. Der Tisch vor ihm ist leer, keine Zeitungen, keine Bücher und kein Staub, nur ein einsamer Aschenbecher. Die Wohnung des Generalmajors verrät nichts über seine berufliche Vergangenheit – keine militärischen Insignien, keine Urkunden und keine Fotos. Alles wirkt sauber und steril, wie in einem Hotel. In der Stereoanlage liegt eine Kassette mit deutscher Volksmusik. Sie passt gut hierher.

Gleich nach der Schule, mit 18 Jahren, ging Männchen zur Stasi. Ursprünglich wollte er zur kasernierten Volkspolizei, doch die hatten keinen freien Ausbildungsplatz mehr, sagt er. Die Stasi bot ihm ein Studium der Hochfrequenztechnik an. „Ich wusste in den Fünfzigerjahren gar nicht, was die Stasi für ein Apparat war.“ Man will es ihm fast glauben. Männchen kam gerade von der Schule, die DDR war ein junger Staat und Männchen selbst ein junger, vielleicht auch unerfahrener Mann. Ende der Fünfzigerjahre arbeitet er noch als „Abhörer“. Die damals relativ kleine „Funkabwehr“ des MfS richtete sich vor allem gegen „gegnerische“ Agenten, die sich auf dem Territorium der DDR Informationen zufunkten. Je brauchbarer die aus dem Äther gefischten Informationen waren, umso größer die Bedeutung der „Funkabwehr“. Ende der Sechzigerjahre wurde sie zur „Funkaufklärung“ umgebaut und Männchen ihr Chef. „Anfangs haben wir uns nur um West-Berlin gekümmert. Unsere erste Empfangsstation stand auf dem Müggelberg.“

Zur Olympiade 1972 in München erhielt Männchen von Mielke den Befehl, alles rund um das Sportereignis abzuhören. Das war die Generalprobe. Der erste Stützpunkt auf dem Boden der damaligen ČSSR wurde errichtet. „Wir haben das Geiseldrama hautnah mitbekommen“, erinnert er sich. Nach München wurde der Etat von Mielke erhöht, weitere Abhörstationen gebaut. Zum Schluss waren es fünfzehn, zwei in Berlin, drei auf dem Boden der ČSSR und zehn an der innerdeutschen Grenze. Noch im November 1989 konnten so bis zu 5 000 Verbindungen gleichzeitig aufgezeichnet werden. Dazu gehörten Autotelefonate, Fax- und Telefonverbindungen sowie der gesamte Richt- und Satellitenfunkverkehr.

Bis zu 200 Protokolle wurden Männchen täglich von seinen Untergebenen geliefert. Gespräche von Politikern mit ihren Ehefrauen oder Geliebten, vertrauliche Unterhaltungen zwischen Partei und Industrie liefen durch seine Hände und sein Hirn. „Die Sorglosigkeit war groß, keiner rechnete damit, dass er abgehört werden könnte, auch Kurt Biedenkopf und Helmut Kohl nicht“, sagt Männchen. Er spielt damit auf einen Lauschskandal aus den Siebzigerjahren an. Die beiden Politiker unterhielten sich im Herbst 1974 vom Festnetz zum Autotelefon, wobei Biedenkopf dem damaligen CDU-Vorsitzenden Mangel an Konzeption, Stehvermögen, Disziplin und Willenskraft vorgeworfen haben soll. Die unter Markus Wolfs Leitung stehende HVA wiederum nutzte das von Männchen abgefangene Telefonat. Das Gespräch wurde kurz vor der Nominierung Helmut Kohls zum Kanzlerkandidaten unter anderem dem Stern zugespielt, der es veröffentlichte und damit den Parteien einen gewaltigen Schrecken einjagte. Ein damaliges Regierungsmitglied: „Das ist ja zum Kotzen. Alles was wir jetzt reden, nimmt irgendwo jemand auf.“

Gerade in den Siebzigerjahren erlebte die Kommunikationstechnik einen starken Innovationsschub. Das B- und C-Netz für Autotelefone wurde aufgebaut, immer mehr Nachrichten liefen per Fax durch die Leitungen. Die anfängliche Naivität gegenüber der neuen Technik ließ deren Benutzer leichtsinnig werden, ähnlich wie beim heutigen Verschicken von E-Mails. „Da gab es Leute aus höchsten Regierungskreisen, die am Telefon meinten, dass sie bestimmte Dinge nicht sagen und deshalb ein Fax schicken wollen. Da brauchten wir bloß noch auf unseren eigenen Faxapparat drücken und hatten die Informationen auch noch schriftlich.“

Ende der Siebzigerjahre bekam Horst Männchen die ersten brisanten CDU-Dokumente auf den Tisch: „Wir wussten nahezu alles über die Verflechtungen zwischen den Parteien und der Wirtschaft. Das Material stapelte sich bei uns. Markus Wolf wollte es bloß noch nicht einsetzen.“ Die Verquickungen von Parteien mit Industrie und Banken überraschte ihn nicht. „Keine Partei kann von Mitgliedsbeiträgen leben. Sie braucht Spender, genauso wie der Sport Sponsoren braucht“, sagt er. Dann greift er nach seiner HB-Schachtel. Gekonnt klemmt er sie zwischen Oberkörper und den Rest seines linken Armes, nimmt eine Zigarette heraus und zündet sie an. „In Deutschland haben sie alle die Telefonitis. Nahezu jeder muss sich übers Telefon auslassen. Mich hat mal jemand gefragt, wie man das Abhören verhindern kann. ‚Nicht telefonieren‘, habe ich gesagt.“

Männchen, dem Lauscher, ist nichts Menschliches fremd. Die HA III wusste auch über das Intimleben der Politiker gut Bescheid. Männchen erinnert sich aber auch an das tägliche Mobbing in den Führungsetagen und auf den mittleren Ebenen der Parteien. Ob ihm noch andere Parteispenden in Erinnerung geblieben sind? Er hebt die Arme und sagt: „Ähh, was weiß ich denn schon.“ Dann fällt ihm ein Satz ein, den der letzte Innenminister der DDR Peter-Michael Diestel mal gesagt haben soll: „Man muss das Zeug vernichten, sonst sprengt es die Republik in die Luft.“ Zu Diestels Zeit wurden Stasiunterlagen, darunter Wortlautprotokolle von Telefongesprächen führender Partei- und Regierungspolitiker der CDU, zum Kölner Verfassungsschutz gebracht und geschreddert. Männchen nimmt einen tiefen Zug von seiner Zigarette und sagt: „Im Prinzip hatte Diestel Recht, weil die Spendengeschichten so breit laufen, dass es nicht nur Kohl oder vier oder fünf Mann um ihn herum betrifft.“

Kohl und andere Politiker können sich eigentlich über Horst Männchen freuen. Noch heute fühlt sich der Ex-Generalmajor der Geheimhaltung verpflichtet. „Ich habe mal einen Eid geleistet. Auch wenn die DDR längst untergegangen ist, hat mich noch keiner von diesem Eid befreit“, sagt er kokett. Männchen will die „alten Feinde“, die Belauschten, nicht lächerlich machen. „Auch wenn ich Kohl oder Schröder nicht zu meinen Freunden zähle, schlage ich ihnen doch nicht die Füße unterm Bauch weg.“

Dann guckt er angestrengt durch das Fenster ins Freie. Draußen hat es angefangen zu regnen. Auf dem Demeritzsee vor Männchens Haus kräuseln sich die Wellen. Eine verstörte Amsel zwitschert leise von einem Baum herunter. Es ist eine merkwürdige Situation. Bis zu seinem 55. Lebensjahr hat Männchen nichts gesagt. Auch nach der Auflösung des MfS hat er geschwiegen. Als ihm im Mai 1993 der Generalbundesanwalt eine hundert Seiten starke Anklageschrift vorlegte, redete er zum ersten Mal. Männchen wurde vernommen. Alles, was sie über seine Tätigkeit als oberster Lauscher herausbekommen hatte, bestätigte er der „gegnerischen Seite“ – so nennt er sie noch heute.

Manchmal trifft Männchen beim Spaziergang frühere Kollegen. Diejenigen, die nicht aus Angst vor ihm davonrennen, reden schon mal mit ihm. Darüber, wo sie jetzt arbeiten. Mit „untergekommen“ beschreiben sie ihm ihre neuen Jobs. Über die alten Zeiten redet keiner. Nur drei aus seiner Truppe hätten sich „verkauft“, sagt Männchen. Einer von ihnen schreibt heute als Journalist für ein deutsches Nachrichtenmagazin. Auch Männchen ist „untergekommen“. Er berät kleinere Firmen: „Viele wissen doch immer noch nicht, wie man Angestellte fristgerecht entlässt.“

Über die Jahrzehnte bei der Stasi denkt Männchen nur ungern nach. Er habe Angst davor, dass da etwas aus seinem Unterbewusstsein hervorkriechen könnte, was er plötzlich nicht im Griff hat, sagt er. „Es war doch so, als stünde man direkt neben den belauschten Personen.“ Männchen weiß, dass einige Kollegen unter Verfolgungswahn leiden und nachts schweißgebadet aus Albträumen erwachen. Deshalb hat er sich dazu entschlossen, seine Vergangenheit einfach zu ignorieren. Seiner Frau ist dies nicht gelungen. Ein Leben lang hat er ihr nichts von seinem Job erzählt. Irgendwann fragte sie nicht mehr, begann zu trinken. Männchen bemerkte es nicht. Als ihm der Arzt sagte, seine Frau sei seit zehn Jahren Alkoholikerin, trennte er sich von ihr. Das war 1997. „Sie war die Person, die mir am nächsten war“, sagt er heute. Freunde hat er keine. Als Generalmajor sei dies nicht möglich gewesen, sagt Männchen. Würde er sein Leben noch einmal so leben? „Ich würde es wieder so machen, wenn ich das Ende nicht kennen würde. Hätte ich das Ende gekannt, hätte ich nicht gewusst, was ich machen soll.“