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: HELMUT HÖGE über Juveniljuwelen

DER EWIGE JUGENDLICHE

Eine nicht mehr ganz junge Freundin von mir gebraucht neuerdings das Wort „Judithhermannesk“ – zur Bezeichnung von viel versprechenden literarischen Texten junger Kulturwissenschaftlerinnen, die früher als Kellnerinnen im Prenzlauer Berg arbeiteten und nun für zwei Jahre nach Kathmandu gehen, um von dieser schwindeligen Höhe aus ihre Drittromane beherzt in Angriff zu nehmen, die sie uns vorab schon auf so genannten Webpages – mit dem Titel „In dünner Luft“ – einsehen lassen.

Judithhermannesk sind eigentlich alle Berlinromanschreiber – und seien sie noch so non-female. Diese jungen Berlinromane sind out – meinte denn auch ein betagter Bertelsmann-Chef bereits und tilgte neulich schon mal wenigstens das „Berlin“ im Titel eines neuen Buches (von Wladimir Kaminer). Anders dagegen der Rowohlt-Chef, der seine Berlin-Dependance jetzt erst recht ganz „jung“ besetzen will. Judithhermannesk – das ist trotz alledem nicht abfällig gemeint. Die wunderbare taz-Autorin Jenni Zylka gehört dazu, ferner die sich lustig selbst vermarktende Sale-e-Tabacchi-Romanautorin, der ernste Sachbuchautor am Nebentisch daselbst, Elke Nater mit Kind und Kegel, dann all die judithhermannesken Existenzen in Pnom Penh, Bangkok, New York und Wiepersdorf, die nomadischen Dichterinnen in Pankow und die monadischen Prosaistinnen am Wannsee.

In der taz gibt es bereits einen Aushang, mit dem ihre sexuelle Belästigung zumindest auf den taz-Etagen streng verboten wird. Auf den jüngsten Treffen junger Autoren war es wiederholt zu Belästigungen – durch vornehmlich ältere Journalisten gekommen. Wie konnte so etwas bloß passieren? Es gibt eine Theorie, wonach die Sechzigerjahre-Studentenbewegung dadurch entstand, dass erstmalig in der Geschichte eine nennenswerte Zahl junger Leute wirklich kaufkräftig war. Im Ergebnis entstand die Popkultur. Zwar anfänglich noch heftig von den puritanisch-rigiden Nachkriegsgesellschaften bekämpft (so wurden in den USA zum Beispiel Rockplatten öffentlich verbrannt), aber dann immer hemmungsloser in die etablierten Verwertungsmaschinerien eingespeist – gelockt. „Wir machen aus Punk Prunk“ (Kaufhof) und „Wir hieven selbst die härtesten Ghetto-Zuhälter-Hymnen in die Charts“ (Leo McDrover).

Inzwischen gibt es Senats-Rockbeauftragte und Trendscouts, die auch noch dem abartigsten Skinhead die Farbkombination seiner Dressed-to-kill-Montur abkupfern.

Der Terror hat sich komplett umgedreht: Heute rangeln selbst seriöseste Senior-Citizen und abgekanzelte Altkommunisten um Juvenilität und damit – Bonität. Die Chance, prominent zu werden, hat sich auf die Zeitspanne zwischen 20 und 30 reduziert und sie ist höchstens noch nach unten hin offen. In der Kita an der Wichertstraße versuchen sich bereits Dreijährige an Witz und Schlagfertigkeit zu übertreffen. Ihre besten Bonmots werden abends auf Elternpartys wie philosophische Brocken herumgereicht. Und tatsächlich wirken viele gymnasiale Oberstufler gegenüber diesen judithhermannesken Frühreifen schon wie „Burnt-Out“.

Das macht aber alles gar nichts, wage ich zu prophezeien. Hintergrund dieses ganzen Juvenilamoks ist der aus dem elektronischen Existenzgründerwahn hervorgegangene Selbstständigkeitsdrang im Verein mit der grotesken Global-Player-Propaganda. Selbst mein Dönerbudenbesitzer am Moritzplatz ist vom Fusionsfieber erfasst, sein Sohn studiert die Aktienmärkte.

In ein paar Jahren stehen wir aber vor unseren Bücherregalen – mit Titeln wie „Mega-Trends für Jedermann“, „Erfolgreich – aber wie?“, „Reich in 100 Tagen“, „Vermarkte dich selbst“ – und wundern uns: Wie konnten wir uns bloß so gehen lassen? Was soll dieser ganze Scheiß eigentlich? Danach beruhigen wir uns jedoch wieder.