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Danny hat Fernweh

Doch zunächst torkelt er erst mal zwischen Stratosphäre und Rinnstein – als poetische Rebellion gegen das Grau in Grau seiner Umgebung. Volker Kaminskis „Söhne Niemands“

von AURELIANA SORRENTO

Ginge man in eine Provinzstadtkneipe, würde man haufenweise Dannys finden: in die Jahre gekommene Männer mit Dreitagebart, über dem Bierhumpen gebeugt ihren einstigen Traum vom Leben aufdämpfend. Aber Danny ist noch nicht in die Jahre gekommen, er ist jung, Student und sozusagen die Vorwegnahme all der gewöhnlichen Provinzkneipen-Dannys, die man so kennt. Seinen großen Traum hat er just vor sich. Danny will nach Syrien fahren, sich einer archäologischen Expedition anschließen. Aufbrechen, aufbrechen! Bedauerlicherweise studiert er nicht Archäologie, studiert im Grunde überhaupt nichts. Im elften Semester angekommen, hält er sich mit einem Job im Schlachthof über Wasser und geht nur mehr in die Unibibliothek, um dem Philosophiestudenten Wilhelm mit Oden an das wahre Leben das Lernen abzureden. Damit hätte Volker Kaminski den Helden seines ersten Romans, „Söhne Niemands“, als Fall für Kneipiers und Sozialpsychologen schon erledigt.

Als Sozialstudie ist der Roman aber nicht so schlüssig, dass man ihn den Fachleuten überlassen könnte. Erstens hat der vom Titel als Niemandssohn abgestempelte Danny anfangs doch beide Eltern. Diese tun sich in seinen Albträumen im Schlaf und Wachzustand um. Zweitens schert sich der Autor keinen Pfifferling um die sozioökonomischen Zusammenhänge und um die Danny umgebenden Figuren herzlich wenig. Man erfährt, dass der Schlachterkollege Bastian sich nichts Besseres vorstellen kann, als weiterhin Schlachter zu sein, und sich zu Hause dafür mit Teddys tröstet. Der Unikollege Wilhelm redet in Philosophenzitaten und ist ganz blass vom Bücherlesen und auktorialen Desinteresse. Die zwei weiblichen Lockvögel des Buches, Astrid und Liz, kann man höchstens als wohnraumgierige Girlies identifizieren, die es komischerweise auf Dannys gar nicht edle Wohnung abgesehen haben. Von Sozialtableau, auf dem das Abdriften des Helden gründen könnte, also keine Spur. Im Gegenteil. Der Autor wendet seine ganze Kunst darauf, Dannys Fernweh als poetische Rebellion gegen das Grau in Grau seiner Umgebung zu behaupten.

Es genügt, dass er in den nächsten Schuppen an der Straßenecke geht, und schon werden die Topfpalmen an den Fensternischen und der mit Sand bestreute Fußboden zu einer exotischen Wüstenlandschaft. Der Einkaufsboulevard, über dem sich der Regen gerade verzogen hat, verklärt sich vor seinen Augen in das Rollfeld des Flugzeugs nach Damaskus. Und wenn ihn der Hauslärm mitten in der Nacht aus dem Schlaf reißt, verbreitet sich das Mondlicht im Hof „wie eine weiße Düne“ über die Hauswand. Schritt für Schritt hebt der Held vom Boden ab, bis sein labiler Realitätsbezug ganz flöten geht. Folgerichtig: Wahnsinn. Vereinsamung. Verwahrlosung. Stillstand.

An diesem Punkt angelangt, hätte ein anderer als Kaminski die Lage ausgekostet und die monomanische Ersatzwelt seines Protagonisten mit analytischen Winkelzügen ausgemessen. Hätte die Koordinaten dieses halluzinatorischen Raumes so ausgedehnt, dass die des Wirklichen dahinschrumpfen würden. Hätte die Einöde des Alltags vor der schillernden Enormität einer Chimäre noch grauer erscheinen lassen. Zum Kontrapunkt die Folgen des Wahns mit minutiösem Realismus geschildert.

Kaminski muss diese Möglichkeit erahnt haben, denn ansatzweise hat er seinen Roman so angelegt. Welcher Teufel ihn aber geritten hat, seinen Heroen vom seligen Irrsinn wieder auf durchschnittsmenschliche Pfade zu führen, weiß nur er. Die Nase in der Stratosphäre und die Sohle auf dem Bürgersteig, stolpert Danny über die (nur manchmal groteske) Banalität.

Tatsächlich: Er rafft sich auf, sucht eine Firma, die ihn nach Damaskus bringt, lässt sich von einem schurkischen Agenten einen Bären aufbinden, fällt auf die Nase, flieht zu seiner Schwester, die es inzwischen zu zwei Geschäften und zwei Kindern gebracht hat, arbeitet als Aushilfe in deren Modeladen und brodelt vor Unrast.

Ein neuerlicher Ausflug ins Visionäre könnte den Helden für den Leser fast noch retten, dann überantwortet ihn aber Kaminski dem unwahrscheinlichsten Wesen, das Schriftstellerfantasien je geboren haben. Danny wird von einem Ganoven gefangen genommen, der mit einem Nietzsche-Buch in der Hand und einem Wolfspelz auf dem Rücken seine Raubzüge durch Vorstadtvillen als Urtierrituale inszeniert. Und über das schier Lächerliche dieser Figur kann uns nicht mal das Happy End hinwegtrösten, als der Held auf ungeklärtem Wege endlich sein Ziel erreicht. Von Räubern im Wolfspelz haben wir spätestens seit dem Gitterbett nicht mehr geträumt.

Volker Kaminski: „Söhne Niemands“. Volk und Welt, Berlin 2000, 170 Seiten, 28 DM

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