: Liebe und Reproduktion
Wenn liebevolle Blicke einzig dem Begehren und seiner beharrlichen Nutzlosigkeit dienen und die Systemtheorie alles in allem zu staatsmännisch auftritt: Warum Niklas Luhmann über die Liebe schreibt und Marcel Proust vergisst
von FRIEDRICH BALKE
In einer nicht nur von Systemtheoretikern viel gelesenen Studie definiert der Soziologe Niklas Luhmann Liebe als „ein literarisch präformiertes, geradezu vorgeschriebenes Gefühl“. Was liegt da näher, als insbesondere belletristische Literatur daraufhin zu untersuchen, welche Modelle sie ihren Lesern zur Verfügung stellt, um sie für die Teilnahme an Intimkommunikation auszurüsten?
Für die moderne Situation ist charakteristisch, dass Liebe sich nicht länger durch gesellschaftliche Mächte wie Familie und Religion dirigieren lässt, dass sie sich auch nicht länger von den (idealisierten) Qualitäten des geliebten Objekts, sondern nur noch von sich selbst abhängig macht, dass sie, mit einem Lieblingsausdruck Luhmanns, selbstreferenziell wird. In dem Maße, wie die romantische, also selbstreferenziell gewordene Liebe zum gesellschaftsweit verbindlichen Modell kanonisiert wird, stellen sich nun aber alsbald Trivialisierungseffekte ein. Was sich zwischen 1800 und unserer Gegenwart abspielt, ist die Etablierung einer Art „Kleine-Leute-Romantik“, die neben Literatur zusehends auf das Medium Film verwiesen ist. Luhmanns zusammenfassende Diagnose: „Man versucht, die Semantik der romantischen Liebe durch Weglassen aller Elemente zu kürzen, die Bedrohliches signalisieren. Nicht nur Romanhelden wie Don Quichotte, Emma Bovary, Julien Sorel, nein, jedermann bekommt die Möglichkeit, sich in copierte Bedürfnisse hineinzusteigern.“ Bereits bei dieser kursorischen Aufzählung von berühmten Romanhelden fällt auf, dass Luhmann bei Stendhal und Flaubert Halt macht und Marcel Proust an keiner Stelle von „Liebe als Passion“ erwähnt. Nicht nur fehlen in seiner Liste Marcel und Albertine, sondern auch Charlus und Jupien oder Charlus und Morel, also die Helden der Inversion, die Bewohner Sodoms ebenso wie Gomorras. Fehlen sie schlicht deshalb, weil das 20. Jahrhundert auch das noch an der Liebe wegkürzt, was das 19. ihr an Bedrohlichem gelassen hatte?
Irgendetwas fehlt eben immer, könnte man meinen. Wer, wie Luhmann Kontingenz so groß schreibt, kann unmöglich Ansprüche auf Vollständigkeit erheben. Aber um solche Ansprüche geht es bei dieser Frage auch gar nicht, eher schon um eine Symptomatik der Leerstellen einer Theorie, die zwar nicht alles, aber doch alles sozial Relevante zu behandeln vorgibt. Könnte es sein, dass Niklas Luhmann Marcel Proust deshalb keine besondere Beachtung schenkt, weil dieser, wenn auch ungenannt, auf eine unterschwellige Weise durchaus in seinem semantikgeschichtlichen Abriss präsent ist?
Die passionierte Liebe der „Recherche“ gerät nämlich, so die These, in ein sich im 19. Jahrhundert spezifisch strukturierendes biopolitisches Kräftefeld und sieht sich daher unversehens in eine Problematik verstrickt, die Luhmann unter dem bezeichnenden Titel der „Ideologie der Reproduktion“ verhandelt. Das Soziale im Sinne der modernen biopolitischen Diskurse und Dispositive, die Michel Foucault zufolge den Sex zum Sprechen bringen, begreift Luhmann ganz richtig als einen „Steuerungszusammenhang“ zwischen höchst individueller Neigung und Gattungsfunktion, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in diversen Liebestheorien „eingebaut“ werde: „Auf der Ebene der Literatur, der Romane, der ,idéologie‘ (die wir hier Semantik nennen) werden Leitvorstellungen festgelegt, die die individuelle Gefühlsbildung beeinflussen. Diese wiederum steuert das generative Verhalten der Menschen in einer Art ,Meditation des Genius der Gattung‘. In einem voll individualisierten, freigegebenen und doch unbemerkt gesteuerten Auswahlverfahren wird über Reproduktion und damit über die ,Zusammensetzung der nächsten Generation‘ entschieden.“ Neben Destutt de Tracy („De l'amour“) referiert Luhmann hier die Grundlinien der „Metaphysik der Geschlechtsliebe“, die Arthur Schopenhauer gegen Ende seines Hauptwerks „Die Welt als Wille und Vorstellung“ entwickelt. In Liebesdingen, so Schopenhauers These, handelt jedes Individuum, „ohne es zu wissen, im Auftrage eines Höheren, der Gattung“. Zwar wähnt „[j]eder nur im Interesse seiner eigenen Wollust [...] jene schwierige Wahl zu treffen: aber er trifft sie genau so, wie es, unter Voraussetzung seiner eigenen Korporisation, dem Interesse der Gattung gemäß ist“ – und Schopenhauer akzentuiert dieses Gattungsinteresse im weiteren unzweideutig biopolitisch, als eine „Tatsache des Lebens“, die wie es Foucault formuliert „von der Kontrolle des Wissens und vom Eingriff der Macht erfasst“ wird. Das Interesse der Gattung liege nämlich darin, so Schopenhauer, ihren „Typus möglichst rein zu erhalten“. In der „Recherche“ gibt Proust eine systematische Antwort auf die Herausforderung, die Schopenhauers Metaphysik der Geschlechtsliebe darstellt – eine Metaphysik, deren biopolitische Signatur auf ihre spezifische Modernität verweist.
Liest man die von Luhmann zitierte Stelle über die „Meditation des Genius der Gattung“ sorgfältiger und berücksichtigt man vor allem Schopenhauers literarische Präparierung dieser Passage, kommt dem Leser der berühmten Eröffnungsszene von „Sodom und Gomorra“ schlagartig deren Tragweite zu Bewusstsein. Die von Luhmann nur bruchstückhaft aufgegriffene Stelle aus der „Metaphysik der Geschlechtsliebe“ lautet im Zusammenhang: „Es liegt etwas ganz Eigenes in dem tiefen, unbewussten Ernst, mit welchem zwei junge Leute verschiedenen Geschlechts, die sich zum ersten Male sehen, einander betrachten; dem forschenden und durchdringenden Blick, den sie aufeinander werfen; der sorgfältigen Musterung, die alle Züge und Theile ihrer beiderseitigen Personen zu erleiden haben. Dieses Forschen und Prüfen nämlich ist die Meditation des Genius der Gattung über das durch sie Beide mögliche Individuum und die Kombination seiner Eigenschaften. Nach dem Resultat derselben fällt der Grad ihres Wohlgefallens an einander und ihres Begehrens nach einander aus.“
Was macht Proust aus dieser von Schopenhauer imaginierten Szene wechselseitiger Beobachtung zweier junger Leute? Er übernimmt von Schopenhauer das Spiel der forschenden und durchdringenden Blicke, ohne dieses Spiel jedoch der Meditation des Genius der Gattung, also des Geschäfts der „kombinatorische[n] Züchtung der Menschengattung“, wie Luhmann, Schopenhauer paraphrasierend, schreibt, zu unterstellen. Das Forschen und Prüfen, das Proust im Eröffnungsabschnitt von „Sodom und Gomorra“ beschreibt, ist durchaus eine Meditation, die aber dem Genius der „Inversion“ beziehungsweise der „Päderastie“ gilt, der sich Schopenhauer nicht zufällig in einem eigens verfassten „Anhang“ zur Metaphysik der Geschlechtsliebe widmet. Bei Proust sind es nicht zwei junge Leute verschiedenen Geschlechts, die sich gegenübertreten, sondern zwei Menschen gleichen Geschlechts und verschiedenen Alters: der Baron Charlus und der Schneider Jupien, wobei das Begehren des Barons weiblich markiert ist (l'homme-femme) und die Homosexualität den die Geschlechterdifferenz begleitendenden sozialen Ernst gewissermaßen spielerisch in ihren Dienst stellt. Die travestierende Wiederholung der protoliterarischen Szene Schopenhauers bei Proust klingt so: „Denn was musste ich sehen! Auf diesem Hof, auf dem die beiden sich gewiss zuvor nie begegnet waren [...] traten sie jetzt einander gegenüber: der Baron, der mit einem Male die halb geschlossenen Lider weit öffnete und mit außergewöhnlicher Aufmerksamkeit den ehemaligen Westenmacher auf der Schwelle seines Ladens betrachtete, und dieser, der wie angenagelt, ja pflanzenhaft angewurzelt stehenblieb, als er Monsieur de Charlus vor sich sah und den staunend bewundernden Blick über die zur Fülle neigende Gestalt des Barons gleiten ließ.“
Im folgenden analysiert Proust ausgiebig das zwischen Jupien und Charlus stattfindende „Blickgeplänkel“ und insistiert vor allem auf der völligen Unvergleichbarkeit dieser Blicke mit den Blicken, „die man gemeinhin für eine Person verwendet, die man wenig oder gar nicht kennt“. Das Forschende und Prüfende dieser Blicke dient nun aber nicht wie bei Schopenhauer der Vorbereitung eines möglichen Zeugungsaktes und der unbewussten Antizipation der Eigenschaften des „durch sie Beide möglichen Individuums“. Die Blicke, die Charlus und Jupien tauschen und denen der beobachtende Erzähler ausdrücklich „eine Natürlichkeit“ attestiert, „die allmählich an Schönheit gewann“ – eine Natürlichkeit, die sich aus der Perspektive des Schopenhauerschen Prätextes als vollkommene „Widernatürlichkeit“ darstellt –, diese Blicke erschöpfen sich ganz in der Eröffnung eines phantasmatischen Raums des Begehrens, für den Proust den Namen einer „orientalischen Stadt“ wählt: Sodom. Der von Schopenhauer beschworene „Eigensinn unserer Wahl“ in eroticis wird von Proust zum Darstellungsprinzip der Eröffnungsszene zwischen Charlus und Jupien gemacht – eine „Art von Doppelpantomime“, so Proust, vollzieht sich vor unseren Augen, die in der Tat die möglichst vorteilhafte Präsentation von „Körpertheilen“ betrifft: Jupien passt sich schlagartig dem Spiel der Gesten und Körperhaltungen des Barons an, wiederholt sie mit seinem eigenen Körper: „den Kopf erhoben“, „seine Gestalt möglichst vorteilhaft zurechtgerückt, wobei er mit grotesker Überheblichkeit die Faust auf die Hüfte stemmte und sein Hinterteil herausdrückte, kurz, Posen annahm, in denen jene Koketterie lag, welche die Orchidee für die von der Vorsehung gesandte, überraschend eintreffende Hummel hätte aufwenden können“.
Prousts Schreiben interveniert also, wie man sieht, in jenen von Luhmann beschriebenen „dreistufigen Steuerungszusammenhang“, der seinen Ausgangspunkt bei der Literatur oder Semantik nimmt und über die von ihr geprägten individuellen Gefühlsbildungen auf das generative Verhalten der Menschen durchgreift. Schopenhauer ist für dieses Modell nicht zuletzt deshalb so paradigmatisch, weil er die biopolitische Signatur des Blicks offenlegt. Statt dem Terror dieses auf Menschenzüchtung abzielenden Blicks auszuweichen, gewinnt ihm Proust dadurch eine ganz eigene „Schönheit“ ab, dass er ihn dem Spiel der homosexuellen Lust dienstbar macht und damit vollständig jedem sozialplanerischen Zugriff, der im Namen der Zukunft der Gattung wirksam wird, entzieht. Die Blicke, die Jupien und Charlus wechseln, dienen einzig dem Begehren und seiner beharrlichen Nutzlosigkeit, das aus biopolitischer Sicht dem Verdikt der „dégenération“ verfällt – und tatsächlich, könnte man ironisch bemerken, verschreibt es sich der Verwerfung des Generativen, ist es kontragenerativ. Die „Kamorra der Konsumenten“, hatte schon Walter Benjamin in seinem „Proust“-Essay festgestellt, „schließt aus ihrer Welt alles aus, was Anteil an der Produktion hat“. Darum, so Benjamin weiter, „war ihm selbst in der Liebe die invertierte Bindung brauchbarer als die normale“. Eine kleine Szene aus einem späteren Teil von „Sodom und Gomorra“ wirft ein bezeichnendes Licht auf den biopolitischen Blick, dessen Träger der Mediziner ist, in unserem Fall der Doktor Cottard. Als er von dem Bildhauer Ski darauf aufmerksam gemacht wird, dass Charlus ein „Päderast“ sei, reagiert Cottard folgendermaßen: „Da muss ich auf meine Füße unter dem Tisch achtgeben, sonst hat er es vielleicht auch noch auf mich abgesehen. Im übrigen wundert mich das nicht so sehr. Ich sehe häufiger solche adligen Herren unter der Dusche im Adamskostüm, die wirken alle mehr oder weniger degeneriert. Ich spreche nicht mit ihnen, denn da ich alles in allem ein Staatsbeamter bin, könnte es mir irgend jemand verdenken.“
Zu fragen bleibt also, warum Luhmann in „Liebe als Passion“ mit ihnen nicht spricht, warum er zwar „homosexuelle Beziehungen“ durchaus für „literaturfähig“ hält, gleichzeitig aber Anstoß nimmt an ihrem mangelnden Bezug zum sozialen Problem der Reproduktion der Gattung. Könnte der Grund für die Verwerfung eines travestierenden Umgangs mit der passionierten Liebessemantik (im Unterschied zu den problemlos zugestandenen trivialisierenden Verkürzungen) darin liegen, dass die Travestie auch noch den letzten Ernst der sozialen Funktion von Intimkommunikation verspielt, oder anders, proustisch formuliert, könnte der Grund für diese Verwerfung darin liegen, dass Luhmann wie der Doktor Cottard „alles in allem ein Staatsbeamter“ war?
Eröffnungsvortrag zum Kolloquium „Erotische Recherchen. Zur Decodierung von Intimität bei Marcel Proust“. 2. bis 4. Mai 2000, Graduiertenkolleg „Intermedialität“ , Universität Siegen
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