: Mit dem Kompass nach Übersee
■ Von Zumutungen, Hula-Hoop-Tänzerinnen und Vokal-Akrobatinnen: Das von Radio Bremen veranstaltete Festival „Pro Musica Nova“ stürzte die BesucherInnen in ein Wechselbad der Gefühle. Ein abschließende Würdigung
Wie Meeresrauschen klang ein Teil von Jan Peter E.R. Sonntags Klang-installation „N-Spiral“. Sonntag hatte sein Stück für das diesjährige Neue-Musik-Festival „Pro Musica Nova“ von Radio Bremen (RB) entworfen und dort uraufgeführt. Das Publikum sitzt innerhalb einer Stofftonne. Der Gang des Klanges ist so konzipiert, dass er spiralförmig steigt und fällt. Mit solcherart psychoakustischen Täuschungen arbeitet Sonntag hinlänglich interessant. Den Auftritt einer Hula-Hoop-Tänzerin sollte er zukünftig allerdings ebenso weglassen wie den ungeheuren Anspruch, durch seine Musik könne man „ein Stück Endlosigkeit erfahren“.
„Orte-Räume-Netze“ hat die RB-Redakteurin für Neue Musik, Marita Emigholz, das Festival genannt. Auf die Idee kam sie, weil immer mehr KomponistInnen bei Aufträgen danach fragen, für welchen Raum sie komponieren sollen. An neun Orten haben die Beteiligten ihre Ideen entworfen, wobei leider nicht alle notwendig mit dem Ort verbunden waren, in dem sie erklangen. Das waren von elf Konzerten streng genommen nur drei: Mark Trayle aus New York, der mit einem besonderen „Kompaßsystem“ die vier Bläser durch das Übersee-Museum wandern ließ; Johannes Sistermanns, der drei SängerInnen in den Hallen einer ehemaligen Leichenaufbewahrungsanstalt meditierend summend herumlaufen ließ – was klanglich ein recht interessantes Experiment ergab – und eben Sonntags dürftig-hybride Oper „N-Spiral“.
Wirklich beeindruckend war kaum etwas. Es ist eben doch so, dass die Beschäftigung mit dem Raum nicht erst in diesem Jahrhundert entstanden ist, sondern von Anfang an zu jeder Musik dazugehört. Man braucht nur an die gregorianische Musik zu denken, die ohne den romanischen Raum überhaupt nicht denkbar ist, an die mittelalterlichen Ratsmusiker, an Johann Sebastian Bach, Hector Berlioz und Gustav Mahler.
Vielleicht bedingt so viel namhafte Geschichtsträchtigkeit bei zeitgenössischen KünstlerInnen eine konzeptionelle Hilflosigkeit wie zum Beispiel die einer „fragment opera“ von Marina Rosenfeld, die eine locker öde Minimalmusik mit drei anderen DJs auf Schallplatten auflegte – in irgendwelches geheimnisvolle Licht getaucht.
Eine regelrechte Zumutung war Sam Auingers und Rupert Hubers Beitrag „Berliner Theorie: memoria/Zeitdreieck“. Eine Stunde lang gab es unverbindliche, sozusagen körperlose elektronische Musik zu hören, die in den sechziger Jahren außerordentlich viel besser gemacht worden ist. Da klafften Anspruch und ästhetische Wirklichkeit ziemlich enttäuschend auseinander.
Ironie der Festival-Geschichte: ausgerechnet die traditionellsten Konzerte genügten höchsten Ansprüchen, so etwa ein großartiger Auftritt von Isao Nakamura, der sich mit seiner explosiven Körperlichkeit und Werken von Younghi Pagh-Paan, Mauricio Kagel und besonders Iannis Xenakis einmal mehr als einer der weltbesten Schlagzeuger auswies. Ebenso beeindruckend: ein Konzert des fabelhaften niederländischen Asko-Ensembles mit drei in Auftrag gegebenen Uraufführungen, von denen eine besser war als die andere. Der Begriff Raum erschien hier in übertragenem Sinn, innere Räume in den empfindlichen Klangwelten von Helmuth Oehring, der wieder einmal ein Stück für Gebärdensprecherinnen und Musiker konzipierte. Dazu gesellte sich Leonard Cruz in der Choreographie „6echs“ als einfühlsamer Tanzperformer.
Dann gab es ein überzeugendes Stück mit einer bewegenden Klangfantasie von Günter Steinke (Augit-à jour) und ein herausragendes Stück namens „ballati“ des Altmeisters Hans Joachim Hepos für Singstimme, Accompagnier-Ensemble und einem in Szene gestellten Dirigenten, der eigentlich keine Funktion hat. Hespos' Werk konzentriert sich in den letzten Jahren immer mehr auf die menschliche Stimme: was hier Ute Wassermann mit geradezu vokaler Akrobatik leistete, war eine kleine Sensation.
Selten genug wird es an den Festivals für Neue Musik ganz einfach auch lustig: hier in der Klanginstallation Erwin Staches, der für sein so genanntes „Batocki-Orchester“ Objekte wie Tischfußballspiele, Abflussreiniger, Telefonwahlscheiben luftpumpenelektromechanisch zu Klangobjekten umfunktioniert und damit eine höchst unterhaltsame Musik produziert.
Es war eine großartige Idee für diese Festivalplanung, an das Ende ein Konzert mit Werken von Luigi Nono zu setzen. Der vor zehn Jahren gestorbene Nono hat wie keiner „Raum“ für seine musikalischen Konzeptionen zugrunde gelegt. Sein Stück für zwei wandernde Geigen „Hay che caminar. Sonando“ aus dem Jahr 1989 setzte das treffliche Ensemble United Berlin unter der Leitung von Peter Hirsch ins Zentrum und schloss nahtlos ältere Stücke wie „Canti per 13“, „Cantiones per Guiomar“ und „Polifonica-Monodia-Ritmica“ an: ein neben Ute Wassermann zweites vokales Festival-Ereignis war hier Angelika Luz von den Stuttgarter Vokalsolisten.
Radio Bremen muss nicht sparen, so der neue Intendant Heinz Glässgen, sondern hat ganz einfach durch den neuen Länderfinanzausgleich etwa ein Drittel weniger Geld. Da ist auch das von Hans Otte 1959 gegründete und weltweit ausstrahlende Nova-Festival in Gefahr, obschon man sich nicht vorstellen kann, dass man über die vierzigjährige Gewachsenheit des Festivals einfach hinweggeht.
Glässgen bezeichnete das Festival als eine schützenswerte kleine Pflanze – sein Wort in Gottes Ohr! Es ist aber wohl eher so, dass man gut geratene Bäume wie dieses Festival kaum ohne Imageverlust wird kappen können. Es wäre ein kultureller Kahlschlag ersten Ranges, den Bremen, das auf der anderen Seite mit den merkwürdigsten Dingen aufrüstet, sich kaum leisten kann, ohne die Substanz erheblich zu schädigen.
Ute Schalz-Laurenze
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen