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Auf die Plätze, fertig, Start-up

In der Hauptstadt boomt die Internetbranche, fast jede Woche geht eine neue Firma ins Netz. Grund: Berlin hat einen guten Ruf, kreative Leute und ist einfach in

In der Szene kursiert ein Witz: Man braucht nur Internet zu sagen und schon öffnen sich alle Türen. Das ist kein Wunder, denn jede Stadt will sie haben – die hippen Multimedia-Firmen, die so genannten Internet-Start-ups. „Wir empfangen jeden mit offenen Armen“, sagt Michael Wehran, Sprecher der Berliner Wirtschaftsverwaltung. Besondere Fördermittel – über die üblichen Investitionszuschüsse hinaus – gebe es für die Start-ups jedoch nicht.

Dies scheint in der Hauptstadt auch kaum nötig zu sein. Bei Banken und anderen Geldgebern, sonst übervorsichtig, sitzt das Geld relativ locker, und vieles scheint ganz von selbst zu funktionieren. Denn die Branche boomt. Die rund 580 Unternehmen der Internetszene wollen in diesem Jahr 1.100 neue Jobs schaffen, hat eine Studie der CIMdata-Weiterbildungsagentur ergeben. Das sind rund 17 Prozent mehr als im Vorjahr. Damals verdienten 6.300 Mitarbeiter in den Web-Firmen ihre Brötchen. Solche Zuwächse sind auch im bundesweiten Vergleich durchaus beachtlich – und in einer Stadt mit mehr als 15 Prozent Arbeitslosigkeit höchst willkommen.

Zuwächse verzeichnet allerdings auch die Konkurrenz, in erster Linie Hamburg und München. „Ein zweistelliges Wachstum haben wir mit Sicherheit“, sagt ein Sprecher der Hamburger Wirtschaftsbehörde. Und verweist stolz auf rund 800 Multimedia-Unternehmen in der Hansestadt, die bis zu 20.000 Menschen beschäftigen. Solche Zahlen sind jedoch nur bedingt vergleichbar: Die Branchenabgrenzung sei schwierig, so der Sprecher.

Eine der jungen Berliner Firmen ist allmaxx.de. Die rund 30 Beschäftigten bauen eine E-Commerce-Plattform für Studenten auf. Das Prinzip: Wer sich dort registrieren lässt, kann verbilligt Waren über das Internet bestellen. Mittlerweile haben sich schon mehr als 1.000 Studenten registrieren lassen. Die Entstehungsgeschichte ist typisch für Start-ups: Gegründet hat die Firma der 25-jährige Florian Schultz, der in einer WG wohnt und sein Jurastudium abgeborchen hat.

Die Möglichkeit, Geschäfte im und ums Netz zu machen, scheint kaum begrenzt zu sein: Die einen bieten Sprachkurse im Internet an, andere planen und gestalten den Web-Auftritt großer Unternehmen, wieder andere bieten interaktives Fernsehen im Internet an oder verwalten eine virtuelle Castingagentur. Dass die Branche tatsächlich schnell und flexibel ist, beweist netWalk.de. Die Weddinger Firma hat eine Online-Registrierung für Green-Card-Bewerber eingerichtet – für Bewerber kostenlos, Firmen müssen nach erfolgreicher Vermittlung zahlen.

Warum die Branche gerade auch in Berlin boomt? In der Szene ist man sich einig: „Die Hauptstadt ist einfach in“, sagt ein Kenner. Während in der Werbebranche lediglich eine nachholende Entwicklung stattfinde, habe Berlin bei den Internet-Start-ups von Anfang an die Nase vorn, sagt der Essener Medienforscher Lutz P. Michel. Das liege hauptsächlich an dem Kreativpotenzial in der Stadt, die einen guten Ruf genieße. „Da sind die einfallsreichen Ostler hingezogen.“

Kritiker sehen die Entwicklung der gesamten Branche, die von liberalen Ökonomen bereits als New Economy gefeiert wird, mit Skepsis. Volkswirtschaftlich gesehen schaffe die Interneteuphorie keine Arbeitsplätze, sondern rationalisiere Vertriebs- und Informationsstrukturen, argumentiert der Krisentheoretiker Robert Kurz. Für die Ausweitung des E-Commerce gelte dasselbe wie für die Verlängerung der Öffnungszeiten im Einzelhandel: Da die Leute nicht mehr Geld in der Tasche hätten, fänden lediglich Umschichtungen der Umsätze statt. „Gesamtwirtschaftlich handelt es sich bestenfalls um ein Nullsummenspiel.“

Den Beschäftigten in der Internetbranche scheint das ebenso egal zu sein wie ihre ungesicherten Arbeitsbedingungen: Wie in den meisten Kreativjobs ist eine 35-Stunden-Woche unbekannt, flexible Arbeitszeiten je nach Auftragslage sind an der Tagesordnung. Ein Viertel aller Jobs werden von freien Mitarbeitern besetzt, die die Unternehmen nach Bedarf anwerben können.

Die Gewerkschaften beobachten diese Entwicklung mit Sorge. Nach ein paar Jahren seien „die gut verdienenden, jungen Dynamiker ausgebrannt“, sagt der Landesvorsitzende der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft (DAG), Hartmut Friedrich. Keiner wisse, was dann komme – ohne soziale Absicherung. „Manchmal muss man die Leute vor sich selber schützen.“

Allerdings: Die Gewerkschaften kriegen keinen Fuß in die Tür, die klassischen Beschäftigtenorganisationen sind in der Internetbranche out. Im Gründerzentrum Adlershof haben die Gewerkschaften vor einigen Monaten ein Beratungsbüro eingerichtet: „Kaum Resonanz“, sagt Friedrich. Wer den Chef duzt, scheint auf Interessenvertretung verzichten zu können. Die jungen Firmen locken mit flachen Hierarchien und auch mit Aktien. Gerade die Start-up-Firmen drängen in den neuen Markt. Die Folge: Der Aktienhandel mutiert zum Lotteriespiel; Kursschwankungen von mehreren hundert Prozent sind keine Seltenheit.

„Wenn wir an die Börse gehen, bin ich dabei“, sagt Heike Ranze, Category Managerin bei allmaxx.de. Dass es hier nicht nur aufwärts geht, mussten viele Anleger beim jüngsten Crash erfahren. Innerhalb kürzester Zeit verloren Internetaktien in aller Welt rapide an Wert. Der New Yorker Börsenspezialist Henry Blodget weiß, warum: „75 Prozent aller Web-Firmen werden niemals einen Gewinn machen.“

RICHARD ROTHERl

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