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Marinas Netzwerk

Es wird oft behauptet, Berlin sei die Hauptstadt der Alleinstehenden. Das ist eine Lüge. In Wirklichkeit ist diese Stadt – eine einzige Beziehungskiste, die jeden Neuankömmling sofort einbezieht. Alle leben hier mit allen. Im Winter hält sich die Kiste versteckt, in Frühling wird sie sichtbar. Wenn man sich Mühe gibt und die Beziehungskarussells einer Person lange genug zurückverfolgt, wird man bald feststellen, dass die Person mindestens indirekt mit der ganzen Stadt verbandelt ist.

Nehmen wir zum Beispiel unsere russische Freundin Marina. Nachdem ihr Mann sie voriges Jahr wegen einer Ballerina sitzen ließ, deren Ballerino sich plötzlich in München bei einem Gastspiel in die Tochter seines besten Freundes verliebte, die mit 23 allein und schwanger in tiefste Depressionen verfiel, weil ihr Freund mit einer schönen Ägypterin durchbrannte, die bei der Reisegesellschaft TUI gearbeitet hatte und auch Tui hieß ...

Aber zurück zu Marina: Ihr Mann war also weg, und dadurch war auch ihre Existenz irgendwie bedroht. Seit etwa zehn Jahren studierte Marina an der Technischen Universität Satellitengeodäsie. Sie studierte und war inzwischen bereits so gut, dass sie mit einem Blick auf die Planeten Mars oder Venus von jeder Kneipe aus haargenau die Schwerkraft ausrechnen konnte. Diese ist nämlich überall verschieden. Aber ihre Diplomarbeit hatte sie noch immer nicht verfasst.

Nun aber brauchte Marina dringend einen Job. Sie schrieb blitzschnell ihre Diplomarbeit über ein lustiges Pärchen von Zwillingssatelliten, die gemeinsam die Erde umkreisen, und schickte drei Dutzend Bewerbungen ab. Bald meldete sich eine Baufirma, die einen Ingenieur suchte. Marina ging zum Vorstellungsgespräch und kehrte nicht nach Hause zurück. Ihre vierzehnjährige Tochter machte sich große Sorgen und rief uns um Mitternacht an.

Marina kam erst am nächsten Tag wieder – mit einem neuen Job und einem neuen Mann. Das Vorstellungsgespräch fand in einer Garage statt, erzählte sie uns hinterher. Der junge Türke – ein Bauunternehmer, der vor kurzem seine Frau mit einem anderen erwischt hatte und daraufhin frustriert mit all seinen Sachen in seine Garage gezogen war, welche ihm gleichzeitig als Büro seines Bauunternehmens diente.

Er hatte also gerade eine schwierige Phase hinter sich und suchte jemanden, der ihm wieder auf die Beine half. Es war Liebe auf den ersten Blick. Nach einem kurzen Vorstellungsgespräch wurde Marina sofort von ihm eingestellt – und sie gingen zusammen essen. Der junge Unternehmer verriet Marina seinen heimlichen Traum: ein Haus am Ufer des Schwarzen Meeres, mit Veranda und Blick auf die eigene Jacht.

„Willst du mit mir auf meiner Veranda sitzen?“, fragte der Mann Marina ganz ernst. Er war fest entschlossen und duldete keine halben Sachen. „Ja, vielleicht“, sagte Marina, „aber nicht ohne meine Tochter.“ – „Deine Kinder finden immer Platz auf meiner Veranda“, versicherte ihr der verliebte junge Unternehmer.

Am nächsten Tag zog er aus der Garage aus und in Marinas Wohnung ein. Am Anfang schien alles perfekt zu sein. Marina lernte seine Eltern kennen und auch seine Exehefrau, die ihr bei der ersten Begegnung einen Büschel Haare ausriss. Doch bald wurde es auf der Veranda immer enger. Marina konnte eine Rund-um-die-Uhr-Beziehung nicht länger als zwei Wochen aushalten. Der Mann zog in die Garage zurück.

Sie brachte ihm jeden Tag etwas zu essen, wenn sie zur Arbeit fuhr. Inzwischen hatte Marinas Tochter ihren ersten Freund in der Schule kennen gelernt. Der Junge schenkte der Tochter ein Handy, über das er sie mit heißen E-Mails bombardierte.

Das bereitete Marina große Sorgen. Immer wieder schärfte sie ihrer Tochter ein, bloß aufzupassen. Niemand weiß genau, wozu diese Technik von heute fähig ist. Und der neue Freund von Marina – ein indischer Computeringenieur – bestätigte es auch. WLADIMIR KAMINER

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