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Das Spiel der hilflosen Zeichen

Gedenkstein einweihen. Okay. Aber wie? Im Stillen? An die große Glocke hängen? Seit dem Tod Farid Guendouls ist alles Symbol geworden

aus Guben THOMAS GERLACH

Tanz oder Zweikampf? Im Gubener Jugendclub „Fabrik“ ist das irgendwo zwischen Samstag und Sonntag nicht mehr zu trennen. Musik dröhnt, Hacken stampfen. Schmächtige Jungs in schweren Schuhen tanzen im Gleichschritt – vor, zurück, mal Angriff, mal Verteidigung. Ein hilflos schwankender Marsch, und kräftige Tritte nach unten. Zorn oder Zärtlichkeit? Die Mädchen wissen das auch nicht, haben die Tanzfläche geräumt, stehen am Rand und schreien einander Wortfetzen ins Ohr. „Die sind zu jung!“, hatte Jozef, der polnische Taxifahrer, gewarnt. „Drüben in Gubin gibt’s 17 Puffs! Soll ich dich zur Grenze fahren?“ Wer kann, verschwindet.

Zum ersten Sozialarbeiter fassen sie noch Vertrauen. Aber zum Vierten?

Heike bleibt. Vor einem Jahr ist sie gekommen. „Wegen Peitsche!“ Sie lacht, kurze Haare, rundes Gesicht, runde Augen, rundes Käppi. Gemeinsam mit ihrem Freund leitet sie den Jugendclub. Neben der „Fabrik“ stehen noch zwei andere in der Stadt. Jugendarbeit gibt’s in der Woche vor allem am Nachmittag. „Die ersten gehen um sieben, die nächsten um acht, die letzten um neun.“ Es sind fast alles Schüler, die meisten haben noch feste Zeiten, zu denen sie zu Hause sein müssen. Lehrstellen sind selten, Lehrlinge auch. Über 30 Sozialarbeiter gibt es in Guben. Eine Menge. Eigentlich. Aber Sozialarbeiter? Die meisten sind ABM-Leute, ein Jahr lang. Zum ersten fassen die Jungs noch Vertrauen, zum zweiten auch noch. Zum dritten? Vierten?

„Peitsche! Wollen wir nicht aus Guben ein DDR-Museum machen?“ Heike lacht wieder. „Das ist das einzige, was die Stadt noch retten könnte!“, brummelt Peitsche, Basecap und Stoppelbart, er scheint ernsthaft zu überlegen. Am Grenzübergang ist die Requisite noch da: „Grisuten, Dederon, Chemiefasern der DDR, international anerkannt.“ Unbeschadet und frisch rühmt die Leuchtreklame eine Leiche und begrüßt damit polnische Besucher in der EU. Wer den Schalter findet, könnte den Toten wecken.

„Es gibt gute und schlechte Menschen!“ Wie eine Sphinx sagt Irfan diesen Satz. Er ist Kosovo-Albaner, jung und hat Haare wie ein Helm. Dicht und schwarz hängt der Scheitel über den Augenbrauen. Irfan wohnt in Guben. Zeitweise. „In diesem Jahr werden wir abgeschoben“, sagt er. Mustafa nickt heftig mit dem Kopf. Die beiden haben den Einkaufswagen mit Hähnchenschenkeln, Dosenspagetti und Saft vom „Kaufland“ ins Asylbewerberheim geschoben. „Den bring’ ich gleich wieder zurück!“, sagt Irfan. Dass nur keiner denke, sie klauten. Irfan scheint zufrieden in Guben. „Es gibt Gute und Schlechte.“ Gott sei Dank hat er eine Gute gefunden. Ein deutsches Mädchen, bei dem er wohnt. Irfan bleckt die Oberlippe, seine Augen leuchten. „Viele aus dem Heim haben eine Freundin hier.“ Kein Ärger mit deutschen Männern? „Es gibt Gute und Schlechte.“ Neben Irfan wirkt Mustafa schüchtern, er schläft noch im Heim. Vier Jahre sind beide hier. Vier Monate bleiben sie noch. Vielleicht.

Die Baracke neben den Gleisen war früher der Kindergarten des Chemiefaserwerks. Vor 14 Monaten wurde Farid Guendoul von Rechtsradikalen durch ein Neubaugebiet gehetzt. Der Algerier sprang in seiner Angst durch eine Glastür und starb an den Verletzungen. Der Tod des 28-Jährigen, der unter dem Namen Omar Ben Noui Asyl beantragt hatte, machte die 28.000-Einwohner-Stadt bekannt. „Irfan, bloß gut, dass du bei deiner Freundin auch duschst, dann brauch’ ich nicht mehr 4.500 Mark für Wasser im Monat zahlen.“ Mehmet Topraksuyu hat so seine Sorgen. Was ist da schon Ausländerhass? „Der richtet sich vor allem gegen die Polen! Wir stören die Rechten doch nicht.“ Topraksuyu, ein in Berlin aufgewachsener Türke, ist vor acht Wochen Chef des Heims geworden. Seitdem sinniert er über die deutsche Justiz.

Der Heimleiter wollte helfen. Nun soll er ein Vergewaltiger sein

Der eigentliche Leiter, ein Farbiger von den Seychellen, sitzt in Cottbus in U-Haft. Er soll eine minderjährige Asylbewerberin vergewaltigt haben. „Absurd! Wissen Sie, der hatte seit langem eine Beziehung mit dem Mädchen. Das wussten alle.“ Als deren Eltern die Abschiebung erhielten, kam die Anzeige. „Der hat bei Ben Noui sehr bei der Spurensicherung geholfen. Vielleicht hat er sich da nicht nur Freunde bei Staatsanwaltschaft und Polizei gemacht?“ Vermutungen. Und Zeitungsmeldungen bis nach Berlin.

„Wir beten für unsere Stadt Guben, die in die negativen Schlagzeilen geraten ist. Danke, dass die Schmierereien so schnell wieder beseitigt wurden! Das kann uns selbstbewusster machen!“, murmelt es vom Altar. Draußen unter einer knospenden Birke und schweren Steinen schlafen die Juden, drinnen singen und beten die Christen. In Guben ist das seit fast 50 Jahren so. Die Kirchengemeinde nutzt die ehemalige jüdische Kapelle für Gottesdienste, im Gegenzug pflegt sie den angrenzenden Friedhof. Früher lag er weit vor der Stadt, jetzt grenzt er an das Neubaugebiet.

Schmerl Mandelbaum, Herrmann Meyer, Mathilde Cohn und die anderen Gubener Juden haben es gut bei den Christen. Der Friedhof ist gefegt, der Rasen geharkt, die Mauer solide. Und vor zwei Jahren richtete die Gemeinde einen Stein für die Gubener Juden auf, die von den Nazis ermordet wurden. Zweimal sind seitdem andere Gubener auf den Hügel gestiegen – nachts, mit Farbe im Eimer und Hass im Kopf, haben sie Hakenkreuze und „Jude verrecke!“ auf die Steine geschmiert. Das letzte Mal vor vier Wochen. „Zwei Jungs sind kurz danach mit ihren Eltern zu mir gekommen und haben sich entschuldigt“, sagt Michael Domke. Der Pfarrer wohnt mit seiner Familie neben der Kapelle. „Die beiden sind keine hartgesottenen Neonazis. Die hatten keine Ahnung von Juden.“

Domke sitzt mit hochgeschlagenem Kragen unter der gewölbten Holzdecke, spricht vor sich hin, als meditiere er. „Der Druck in den Cliquen ist groß.“ Viele Jungs sind schwach, im Körper und im Kopf. Zumindest allein. Demnächst will Domke die beiden noch mal besuchen. Die anderen sechs sind hier oben nicht mehr aufgetaucht, weder bei Nacht, noch bei Tag. Am Morgen nach den Schmierereien kaufte Domke Lösungsmittel. Mit getränkten Lappen war die Farbe schnell weggewischt. „28 Leute haben sofort geholfen, das hat die beeindruckt.“ Wenn sich doch der Ruf Gubens auch so einfach reinigen ließe.

Der Friedhof ist Nebenschauplatz, der Gedenkstein für Farid Guendoul Hauptbühne, beide liegen in Sichtweite voneinander. Im letzten Sommer gossen Jugendliche der Gubener Antifa einen Feldstein in Beton. Der Quadratmeter auf der Wiese neben dem Block, wo Guendoul verblutete, zieht wie kein zweiter Fleck Hass und Fürsorge gleichermaßen auf sich. Tritte, Farbe, Bier, Urin, Scherben, vieles hat die im Stein eingelassene Tafel überstanden. Die Knaller zu Silvester nicht. Mit gehisster Reichskriegsflagge begrüßten die Rechten das neue Jahr, noch ein paar Böller auf das alte. Ein Stein merkt ja nichts. Die nächste Tafel lag zwei Wochen, dann war sie weg.

Der Traum zweier Städte am Arsch der Welt ist zum Albdruck geworden

Stein, Tafel, Inschrift – alles ist Symbol geworden, alles hat Bedeutung, jeder Schritt, jedes Wort, jede Geste. Eine Diskussion wie beim Holocaust-Mahnmal in einem Klecks von Stadt, hundertmal kleiner als Berlin. Alle sind Figuren, alle auf einem Brett. Nur nichts falsch machen! Die Stadtverordneten haben den Stein unter ihren Schutz gestellt. Richtig oder falsch? Richtig! Eine Runde weiter. Die Gubener spielen ein trauriges Spiel, werden von Richtern beäugt und kennen die Regeln nicht. Was ihr bloß wollt? Das sei wie Glücksrad, habe ihn eine Bekannte getröstet, sagt einer. Jetzt war Guben dran. Glücksrad? Falsch! Aussetzen. Statistisch gesehen könnte Ruhe einkehren.

Guben ist mit Gubin als Modellprojekt Eurostadt bei der Expo dabei, verteilt glänzende Prospekte, hofft auf Besucher und präsentiert drei Auszeichnungen: 1996 – Europamedaille. 1997 – Europadiplom. 1998 – Europafahne. Schluss. 1999 – Omar Ben Noui. 2000 – Raubmord an einem Deutschen in Gubin. Nun Expo Hannover. Der Traum von Zukunft und Tradition, von Europastadt, Europaschule, vom gemeinsamen Haus, der tiefblaue Traum, die Hoffnung zweier Städte am Arsch der Welt ist zum Albdruck geworden. In Guben ist ein Algerier verblutet. In Gubin wurde ein Deutscher erschlagen. Fremdenhass hier, Geldgier dort – Modellprojekt Eurostadt? Falsch? Richtig? Ob die Expo-Besucher auch den Gedenkstein sehen wollen? Und was soll draufstehen? Bloß kein verfänglicher Text! Die Rechten haben gute Anwälte! Muss der Stein bewacht werden? Mit einer Kamera? Alarmstufe rot, seit 14 Monaten. Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda, Solingen, Lübeck, Eberswalde, Eggesin. Die Landkarte des Fremdenhasses hat ihre Orte, der Eintrag Gubens ist noch frisch.

„23 Prozent Arbeitslosigkeit gibt’s auch anderswo. Es ist aber bei uns passiert!“ Christine Knapik steht unter Strom, ihre Finger tasten nervös nach Worten. Sie ist Chefin des Verbandes der Polen in Guben. Leise klirrt ein Reif gegen das Armband, wieder und wieder. „Es ist doch egal ob es 50 oder 100 oder 150 sind, es sind für mich Unmenschen.“ Wer gewaltbereit ist, ist ein Unmensch. Nicht alle in Guben benutzen schon diese Gleichung. „Wir müssen eine Gegenöffentlichkeit herstellen! Wir müssen den Stein bewachen. Der ist von vielen Wohnungen aus zu sehen.“ Kamera ist Kapitulation. Gleich wird Christine Knapik Polnisch unterrichten. André von der Antifa ist schon da. Er überlegt. „Wir rechnen mit Bewährung.“ Keine Illusionen mehr. Nach dem Tod von Omar Ben Noui waren die Rechten etwas stiller geworden. Längst vorbei. Wenn der Prozess gegen die elf mit Bewährung, gar Freispruch endet, wird in Guben manche Bierpulle entkorkt. Und manche zerschlagen.

Heute wird die neue Tafel mit „öffentlich-rechtlicher Widmung“ eingelassen. Im Stillen? Oder an die große Glocke hängen? Richtig? Falsch? Heute wird auch der Prozess in Cottbus fortgesetzt. „Zufall“, sagt Christine Knapik. Vielleicht. Alles ist Symbol geworden.

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