: In der Idylle des Unfriedens
Eberhard Specht aus dem Dorf gejagt? Der stellvertretende Bürgermeister: Die haben ihm doch schöne zehn, zwölf Hektar angeboten
von HEIKE HAARHOFF
Zuerst den Wald, sagt der alte Mann, beschreiben Sie mir den Wald. Nun ja, er ist recht groß, selbst für brandenburgische Verhältnisse, alle Wege nach Dolgenbrodt führen durch den Wald, egal, ob man von Blossin, Prieros oder Gussow kommt. Und wenn man das Dorf aus der Luft betrachtet, dann sieht es aus, als gäbe es nur die vielen Laubbäume, jetzt im Frühling übrigens in diesem künstlichen Grün, wie es im restlichen Jahr nur in Farbmalkästen von Grundschülern zu finden ist. Vor lauter Idylle ist es, als könne von den kleinen Häusern am Ufer der Dahme und von den Menschen, die hier leben, kein Unfrieden ausgehen.
Oh, sagt der alte Mann, dann ist der Wald also mächtig gewachsen, und die Freude, die ihm diese Nachricht bereitet, ist unüberhörbar, obwohl die Telefonleitung so schlecht ist und obwohl die Erinnerungen an sein Heimatdorf Dolgenbrodt nicht zu einem friedvollen Bild zusammenwachsen wollen. Seinen Vater Heinrich Specht haben die Nazis auf dem Gewissen, seine Mutter Badana Specht sprang nach Kriegsende vor Kummer in die Spree, und er, der Sohn, Eberhard Specht, lebt seitdem am Stadtrand von São Paulo in Brasilien, „mittellos“, sagt sein Anwalt Andreas Giese aus Berlin.
Denn neben seinen Angehörigen hat der Landwirt im April 1945 gewaltsam auch das verloren, was man gemeinhin wirtschaftliche Existenz nennt: das hochherrschaftliche Gut Dolgenbrodt, die dazugehörigen 300 Hektar Bauland, Acker und eben den Wald, drei Viertel der heutigen Fläche der 319-Seelen-Gemeinde Dolgenbrodt im Landkreis Dahme-Spreewald. Ob und wieviel Eberhard Specht davon 55 Jahre nach Kriegsende zurückbekommt, darüber will heute das Verwaltungsgericht Cottbus nach fast zehn Jahren Rechtsstreit entscheiden.
Eberhard Specht wird nicht im Gerichtssaal sein. Er ist seit 1946 nicht mehr in Deutschland gewesen. Mittlerweile ist er 84. Er sagt: „Ich habe nicht mehr diesen Elan, den man für so eine Reise braucht.“ So, als sei er es, der sich entschuldigen müsse. Er könnte auch sagen: Ich will keinen Fuß mehr setzen in ein Land, das bestreitet, dass ich von den Nazis enteignet worden bin. Ich will nicht riskieren, Menschen zu treffen, die auf meinem Grund und Boden leben und mir das Recht auf Entschädigung absprechen. Und vor allem will ich nicht an Ereignisse erinnert werden, die in den Gerichtsakten unter dem Datum 13. April 1945 vermerkt sind.
An diesem Tag kommt die Gestapo nach Gut Dolgenbrodt. Gutsherr Heinrich Specht hielt zwei desertierte Flakhelfer versteckt, darauf steht Todesstrafe, irgendwer hatte geplaudert. Es fallen Schüsse. Heinrich Specht stirbt. Selbstmord, sagt die Gestapo. Erschießung, glauben Nachbarn und die Ehefrau.
Tags darauf ist die Gestapo wieder da, diesmal mit sechs Beamten und zwei Fahrzeugen. Wohnungen und Gebäude auf dem Gut werden durchsucht, Wertgegenstände beschlagnahmt. Badana Specht ist untergetaucht. Als „Volljüdin“ im Sinne der Nürnberger Gesetze ist sie seit dem Tod ihres „arischen“ Ehemannes auf das höchste gefährdet. Den Nazis hinterlässt sie einen Abschiedsbrief.
Ihren Sohn sieht sie erst nach Kriegsende wieder. Eberhard Specht war seit November 1944 als „Mischling ersten Grades“ unter KZ-ähnlichen Bedingungen Zwangsarbeiter in einem Steinbruch in Gommern, von wo er im Februar 1945 floh und sich seitdem versteckt hielt.
„Der Fall Eberhard Specht ist eindeutig ein Fall rassistisch bedingter nationalsozialistischer Verfolgung“, sagt Johannes Tuchel. Der Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin ist historischer Gutachter im Streit um offene Vermögensfragen, wie der Grundstückskrieg im Behördendeutsch heißt. Die Gestapo sei in der festen Absicht nach Dolgenbrodt gekommen, allen Besitz der Familie zugunsten des Reiches einzuziehen. Egal, ob diese Beschlagnahme sich gegen Heinrich Specht als „Hochverräter“ oder gegen Badana und Eberhard Specht als rassisch Verfolgte gerichtet habe – als „staatliches Handeln“ sei sie allemal zu werten. Und nicht bloß als „wilde Aktion“ durchgeknallter Gestapo-Typen im Chaos der letzten Kriegstage.
Letztere Version vertreten das Landesamt zur Regelung offener Vermögensfragen in Brandenburg und die Gemeinde Dolgenbrodt. Denn nur wer nachweisen kann, dass er förmlich von den Nazis enteignet wurde, hat Anspruch auf Entschädigung. Die würde sich das Land Brandenburg lieber ersparen. Denn die 300 Hektar Ackerland des Eberhard Specht sind mittlerweile Millionen wert. Zu danken ist das den DDR-Bodenreformern. Sie ließen das schlossähnliche Gutsgebäude 1947 abreißen, weil Baumaterial knapp und feudale Architektur nicht angesagt war; die Ländereien wurden in Parzellen aufgeteilt und vergeben: an SED-Bonzen, die hier, 40 Kilometer südöstlich von Berlin, ein ideales Plätzchen am Wasser für ihre Datschen fanden, und an Umsiedler aus Gegenden, die nach dem Krieg Polen hießen. Eberhard Specht und seine Mutter sollten mit zehn Hektar abgespeist werden. Die Mutter setzte diesem Leben ein Ende, der Sohn emigrierte. Ansprüche stellte er erst, als dies wieder möglich war: nach der Wende.
„Niemand soll wegziehen müssen“, ruft der alte Mann ins Telefon, so als hänge seine Glaubwürdigkeit von der Lautstärke ab. Schon einmal hat er vergeblich einen Vergleich angeboten: Zwei Drittel des Geländes sollen die Gemeinde beziehungsweise die jeweiligen Eigentümer behalten dürfen, ein Drittel will er zurück, lediglich im finanziellen Gegenwert, vor allem die Grundstücke am Wasser, die Vertreter der Gemeinde Anfang der 90er Jahre ohne seine Zustimmung zu Spottpreisen an Spekulanten oder sich selbst verkauften, bevor sie wegen des Verdachts der Untreue zurücktreten mussten. 1,5 Millionen Mark aus „nicht genehmigten Grundstücksverkäufen“ liegen auf Konten der Treuhand; 300.000 Mark Pacht jährlich kassiert die Gemeinde von Grundstücken, die einst den Spechts gehörten.
Geld, das die Gemeinde davor bewahrt hat, Pleite zu gehen wie so viele andere Kommunen im Umkreis – bislang, sagt Gerlinde Hake, die ehrenamtliche Bürgermeisterin. Der Beteuerung, Herr Specht wolle nichts von der Pacht, traut sie nicht, denn warum sonst streift die Presse durch Dolgenbrodt und stiftet Unruhe? Gerade war der Ort ein wenig raus aus den Schlagzeilen, schimpft Gerlinde Hake, erst 1992 das Flüchtlingsheim, das in Flammen aufging, einen Tag, bevor die Asylbewerber einziehen sollten, sicher, die Gemeinde hat Geld für den Brandstifter gesammelt, sicher, es ist rausgekommen, und es hat Verurteilungen gegeben, „aber man muss auch die Menschen sehen, und da ist es nur verständlich, dass die die Asylanten hier nicht haben wollten“, sagt Gerlinde Hake. Dann die Reichskriegsflagge, die jahrelang trotzig am Fahnenmast eines Einwohners wehte und für Tumult sorgte, bis das Land ihr das Verbot aussprach. Und nun der Ärger mit Eberhard Specht, „eigentlich sollte ich darüber gar nicht reden“.
Zwei Wochen hat es gedauert, die Bürgermeisterin und ihren Stellvertreter Klaus Walzer zu einem Rundgang durch Dolgenbrodt zu bewegen. „So, schauen Sie sich um“, sagt Gerlinde Hake herausfordernd, und man denkt, jetzt muss einem doch das Übel ins Auge springen, aber da sind nur der aufgeräumte Jugendclub, das Gourmet-Restaurant am See, das Fährhäuschen, die Ausflugsboote, die sauber geharkten Wege. „Sehen Sie“, fragt nun auch Klaus Walzer, „seit Jahren wird nicht mehr investiert, weil niemand weiß, was wird.“
Er erzählt von der Familie, die eigentlich die Fenster und das Dach erneuern wollte, aber keinen Pfennig in die Modernisierung steckt, solange die Grundstücksfrage nicht geklärt ist. Er redet über die Nachbarn, die so gern den Anbau ihrer Kinder finanzieren würden, aber keinen Kredit kriegen, weil Spechts Anwalt den dazu nötigen Eintrag ins Grundbuch verhindert. Er spricht von den Gewerbebetrieben, die sich zwar nicht gemeldet haben, aber es bestimmt tun würden, könnte er ihnen Flächen zum Verkauf anbieten. Und er erinnert an „die alten Leutchen, 85, 90 Jahre alt, die nach dem Krieg als Flüchtlinge gekommen sind und gedacht haben, sie hätten hier ihre Heimat gefunden“. Was Eberhard Specht gedacht haben mag, als die Dolgenbrodter ihn aus dem Dorf jagten, fragt er sich nicht. Es gibt keinen Grund zum Mitleid. Denn Eberhard Specht verdreht sowieso die Geschichte, die Tatsachen, alles. „Von Enteignung kann keine Rede sein“, sagt Gerlinde Hake. Ihr Beweis: „Am 13. April hat der Specht sich umgebracht, und am 24. April war der Russe schon hier. In den zehn Tagen dazwischen konnten die Nazis das Gut gar nicht enteignen.“
Im Frühjahr 1945 waren Gerlinde Hake und Klaus Walzer acht und zehn Jahre alt. Sie betonen das, als leite sich aus dem Umstand, Zeitzeugen des Kriegsendes gewesen zu sein, das Recht ab, jeden Widerspruch gegen ihre Sicht der Dinge als Unfug abzutun. Insbesondere, wenn der von Jüngeren kommt, und seien diese Experten der NS-Geschichte wie Gedenkstättenleiter Johannes Tuchel.
„Meine Mutter“, sagt Klaus Walzer, „hat im Gutsbüro gearbeitet, auch an dem Tag, als der Specht ums Leben kam.“ Folglich könne er sagen, wie alles wirklich war: „Aufgrund der Juden-Situation auf dem Hof waren die Gestapo-Leute ja des öfteren da, aber das lief immer ganz friedlich ab, auch an dem Tag. Die sind mit zwei Männern rein, Specht ist raus, hat sich Zigarren geholt, und sich dann erschossen.“ Warum er das getan haben sollte? „Er wusste wahrscheinlich keinen Ausweg mehr.“ Ebenso wahrscheinlich habe Eberhard Specht, der Sohn, „der immer ein bisschen hochnäsig durchs Dorf stolziert ist“, wie Klaus Walzer gehört hat, sein Glück nach dem Krieg nicht zu schätzen gewusst: „Die haben ihm eine Neusiedlerstelle angeboten, schöne zehn, zwölf Hektar, aber er hat abgelehnt.“ Pause. Dann: „Mein Vater hat angenommen.“
Der Rundgang endet auf dem Friedhof von Dolgenbrodt. Der Grabstein von Badana und Heinrich Specht liegt ein wenig abseits. Zu Lebzeiten hatte Heinrich Specht das Stück Land der Gemeinde zur Friedhofserweiterung geschenkt. Das zuständige Amt in Friedersdorf hat den Sohn in Brasilien aufgefordert, Geld für die Grabpflege zu überweisen. Andernfalls könne für den Erhalt der letzten Ruhestätte nicht garantiert werden. Gerlinde Hake bleibt vor dem Stein stehen. „Sehen Sie, die Gemeinde bezahlt jedes Jahr 15 Mark pro Grab für Abfall und Wasser.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen