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Der Text bleibt nur Text

Vom Irrsinn zum eloquenten Kitsch: Für seine erste Premiere am Berliner Ensemble inszenierte der neue Hausregisseur Philip Tiedemann „Marat/Sade“ von Peter Weiss

von PETRA KOHSE

In der Schaubühne linste am Sonntag vor Beginn der Vorstellung seines Monologstückes „M. E. Z.“ der Hausautor Roland Schimmelpfennig in den Zuschauerraum. Er knetete die Hände und hoffte sichtbar, dass die da drinnen ihm nichts antun werden. Denn der Text, das ist ja er. Im Berliner Ensemble dagegen ertönte am Mittwoch zur ersten Premiere des Hausregisseurs Philip Tiedemann aus dem Lautsprecher eine Programmansage , als wäre man im Kaufhaus und Helene Weigels hundertster Geburtstag am heutigen Freitag ein Sonderangebot. So funkt jedes Theater sein eigenes Anliegen in die Besucherherzen.

Am Berliner Ensemble wurde „Marat/Sade“ gezeigt. Genauer: „Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade“ von Peter Weiss. Ein so genannter Klassiker der Moderne, legendär geworden durch die Londoner Inszenierung von Peter Brook von 1964, zu der Susan Sontag schrieb, das Stück sei eine meisterhafte Verknüpfung des Theatralischen und des Irrsinns, eine glückhafte Verbindung der Theaterideen von Brecht und Artaud. Der Film dazu war in den 80er-Jahren in Berlin regelmäßig zu sehen. Nachts im Wedding, während Gründgens’ Faust-Film aus den 50ern sonntagvormittags am Ku’damm gezeigt wurde. Viele sahen beide mehrfach, das Gewesene wurde sehr ernst genommen.

Heute indessen wirkt es schon seltsam, wenn ein Regisseur seine Inszenierungen von anderswo mit an ein Theater bringt. Mit Schwitters’ „Ursonate“, Handkes „Publikumsbeschimpfung“ und Bernhards „Der Ignorant und der Wahnsinnige“, wurde am BE inzwischen fast das Gesamtwerk von Philip Tiedemann auf den Spielplan gesetzt. Da Bernhards Peymann-Dramolette unter seiner Regie vergangenes Jahr auch noch das Theatertreffen eröffneten, meint man, den in Gießen geborenen 31-Jährigen, der als einziger Exregieassistent von Claus Peymann am Wiener Burgtheater Karriere machte, als nach musikalischen Prinzipien arbeitenden Sprachkunstwerker schon zu kennen. Dabei ist „Marat/Sade“ die erste Arbeit in Berlin.

Das Stück spielt im Jahr 1808 in der Pariser Nervenheilanstalt Charenton, in der der Marquis de Sade 1803 tatsächlich interniert war. Zur Methode des Anstaltsleiters Coulmier gehörte es, Theateraufführungen mit Publikum zuzulassen. Das erinnert daran, dass diese Woche in sechs Berliner Gefängnissen ein Theaterfestival stattfand und sich heute und morgen internationale Knastgruppen in der Berliner Volksbühne treffen.

Tiedemanns Inszenierung jedoch hat weder strukturell noch inhaltlich aktuelle Bezüge. Historisiert wird aber auch nicht ernsthaft, und die Ebene des Irrsinns ist weitgehend eliminiert. Der Vorgang, dass Irrenhausinsassen des Jahres 1808 die Geschichte von der Ermordung des Revolutionärsintellektuellen Marat von 1793 nachspielen und dabei so viel revolutionäres Potential offenbaren, dass die Anstaltsleitung einschreiten muss; der Ideendisput zwischen Marat und dem zynischen Sinnesmenschen de Sade, der in den 60er-Jahren in Deutschland eine ganz andere Virulenz hatte im Schröderland der verschiedenen Mitten – bei Tiedemann erscheint das alles in erster Linie als Text. Als Text, der in verschiedenen Linien und Färbungen strömt und irrlichtert, mal schwallt, dann wieder nur tröpfelt, auf viele Sprecher verteilt oder mehrstimmig intoniert wird. In dem Maße, in dem es dem Stück für Tiedemann an Konkretisierbarkeit mangelt, wird der Text zelebriert: als Bekenntnis zur Kunstfertigkeit, zum Handwerk. Jenseits von politischen und psychischen Befindlichkeiten hat der Text hier als Geräusch noch Bestand. So erfüllt ein Zirpen, Summen und Singsangen die Bühne, atonal und dissonant vom Ensemble folie à quatre unterstützt, das die Bühnenmusik von Hans-Martin Majewski spielt. Auf einem vielgliedrigen Stufengerüst wimmeln hell gekleidet die Insassen, auf der nach vorne geneigten Drehbühne (Paul Lerchbaumer), sitzt Martin Wuttke als der mit Schwären bedeckte Marat in seiner Badewanne. Hinter ihm schwingt Krista Birkner als die ihn später ermordende Charlotte Corday auf einer Schaukel, und in höchster Gelassenheit schreitet Thomas Thieme als Marat einher. Ein Sittenbild detailreichen Stillstands, richtungsloser Fülle, das unterstützt wird durch eine Indifferenz im Ausdruck, die wohl durch die Addition von Revolutionärs- und nicht gespielter Irrenhaltung zustande kommt.

Nun will Tiedemann aber zwar auf die politische Dimension des Stückes, nicht aber auf das Spiel mit dem epischen Erbe verzichten. Den Ausrufer (Ernst Stötzner) und die Zwischenrufe des Anstaltsleiters (Annemone Haase) hat er entsprechend drin gelassen, auch gibt es einen Mitleidschor, der den Verlust der revolutionären Ideale durch einen Wechsel von Weill zu Sambarhythmen illustriert. Da Tiedemann an die Stelle des Irrsinn aber Verkunstung setzt und als Gipfel der Entfesselung schwarz-gelbe Fußbälle mit Perücken über die Bühne kicken lässt, offenbart sich, was als Reduktion und Verweigerung einleuchtete, plötzlich als Mangel an Unterscheidungsfähigkeit und nicht gekonntes Zitieren – als Kunstgewerbe.

Nicht, dass das hörspielartige Arrangement von Schimmelpfennigs Monolog über das Ende einer Liebesbeziehung an der Schaubühne dem vorzuziehen wäre. Auch das ist eloquenter Kitsch. Er kommt aber wenigstens nicht ganz so selbstgewiss daher.

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