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Mehr Kinder für die Einzelkinder

China gibt Paaren mehr Freiraum: Städter dürfen wieder mehr Kinder bekommen. Auf dem Land hat die strenge Ein-Kind-Politik nie ganz gegriffen

aus PekingGEORG BLUME

Sie ist Kindergärtnerin, er verkauft Internet-Telefonkarten, und zusammen gehören sie zu der ersten Generation der Einzelkinderpäarchen in China. „Unsere Eltern folgten der Ein-Kind-Politik der Regierung freiwillig. Mitte der 70er-Jahre war das noch nicht Pflicht und galt als Zeichen der Armut“, erzählen Ma Ying, 24, Tochter eines Pekinger Professors, und Liu Jing, 25, Sohn eines Hauptstadtbeamten. Frisch verheiratet haben Ma und Liu vor wenigen Wochen die kleine Zwei-Zimmer-Wohnung von Lius Großmutter in der Pekinger Innenstadt bezogen und erst einmal gründlich renoviert: Auf dem selbst verlegten deutschen Holzfußboden steht jetzt ein schwedisches Sofa. Darüber prangt ein beinah lebensgroßes Hochzeitsfoto. Vor Bad und Küche hat Ehemann Lui moderne japanische Schiebetüren eingebaut. Auffälligster Gegenstand in der Wohnung ist eine riesige Fernsehanlage mit Flachbildschirm.

Damit meint das junge Paar alle Vorbereitungen getroffen zu haben, um für die Erfüllung seines großen Traums gerüstet zu sein: Nicht weniger als zwei Kinder wollen Ma und Liu in die Ein-Kind-Stadt Peking setzen und damit die Gewohnheiten von zwanzig Jahren Geburtenkontrolle hinter sich lassen. „Unsere Kinder sollen nicht so einsam sein, wie wir es waren“, sagen Frau und Mann übereinstimmend. Was sie jedoch besonders froh stimmt: Ihr Kinderwunsch kann, was die Politik betrifft, problemlos in Erfüllung gehen. Grundsätzlich dürfen chinesische Paare, bei denen beide Partner Einzelkinder sind, in Zukunft wieder zwei Kinder bekommen. Chinas im Westen lange Zeit umstrittene Bevölkerungspolitik löst damit ihr Versprechen ein. Das lautete immer, dass nur einer Generation von Chinesen die Entbehrungen der seit 1979 verordneten Ein-Kind-Politik zugemutet würden.

Viele Chinesen wissen jedoch noch gar nichts von ihrem Glück. Tatsächlich bestätigte der chinesische Partei- und Staatschef Jiang Zemin kürzlich die Kontinuität der Ein-Kind-Politik. „Wir müssen die Bevölkerungskontrolle aus strategischer Sicht betrachten“, sagte er – eine Anspielung darauf, dass Chinas Bevölkerungspolitik keine Rücksicht auf die Bedürfnisse der Individuen nehmen will. Doch diese Botschaft richtete sich an die große Mehrheit, die weiterhin auf dem Land lebt und den Regeln der Geburtenkontrolle bisher ohnehin nur mit etlichen Einschränkungen folgt.

Eine andere Botschaft halten die Kommunisten heute für die Bürger in den Großstädten bereit, die sich der Ein-Kind-Politik in den letzten zwei Jahrzehnten fast ausnahmslos unterwerfen mussten. „60 Millionen Chinesen sind als Einzelkinder geboren. Sie sollen in Zukunft zwei Kinder pro Paar bekommen dürfen“, sagt Zhang Yuqin, die für Familienplanung zuständige Vizeministerin. Nur rede man davon in der Öffentlichkeit wenig, da die Regierung den Eindruck vermeiden wolle, dass die Ein-Kind-Politik sich ihrem Ende zuneige. Auch gibt es bisher nur wenige Pärchen, die wie Ma und Liu von der Neuregelung profitieren können. „Das entscheidene Jahr wird etwa 2005 sein, wenn ein Großteil der Einzelkinder aus den 80er-Jahren ins zeugungsfähige Alter kommt“, prophezeit die Vizeministerin.

In Wirklichkeit ist damit die strenge Ein-Kind-Politik zum Auslaufmodell gestempelt. Denn was fortan für die Städte gilt, ist auf dem Land längst Realität. Hier dürfen Bauern schon immer zwei Kinder haben, wenn das erste eine Tochter ist. Und auch darüber hinaus sind Ausnahmen die Regel. Bauernfamilien mit Einzelkindern bleiben in China eine Seltenheit. In Gohan, einem Dorf in der Provinz Henan am Gelben Fluss, hat die Bäuerin Lui Feng vier Töchter gebören, bevor sie einen Sohn bekam. Dabei wollte sie durch die Geburt eines Sohnes gar nicht so sehr den Familienstolz retten als vielmehr ihre Altersversorgung sichern. Noch immer sind in China 98 Prozent der Senioren von der Unterstützung ihrer Kinder abhängig und 95 Prozent leben mit ihnen an einem Ort. Anders als in der Stadt, wo sich häufiger die Tochter um die Eltern kümmert, erledigt die Altersfürsorge auf dem Dorf fast ausschließlich die Familie des Sohnes. Niemand in Gohan hat Lui daher ihre Geburten übel genommen, obwohl sie nun Strafabgaben für drei Kinder zahlen muss.

Früher hätten diese Abgaben eine Bauernfamilie ruiniert. Heute können mehr und mehr Bauern jene 7.000 Yuan (umgerechnet 1.500 Mark) aufbringen, die sie ein unerlaubtes Kind in aller Regel kostet.

So nähert sich ein Drama seinem Ende, das wie kaum ein anderes ChristInnen, FeministInnen und MenschenrechtlerInnen im Westen gegen die chinesische Politik erzürnt hat. Sie beklagten Zwangsabtreibungen, Zwangssterilisierungen und Kindesmorde und prophezeiten ein Heer von Einzelkindern, das zu „kleinen Kaisern“ erzogen die Gesellschaft tyrannisieren würde. Doch inzwischen ist klar, dass sich ein Großteil der westlichen Kritik überlebt oder nicht bewahrheitet hat. „Die Vision eines Chinas mit lauter Einzelkindern war immer falsch“, sagt Kerstin Leitner, die ständige Repräsentantin der Vereinten Nationen in Peking. „Auch lässt sich der in den 80er-Jahren noch berechtigte Eindruck, dass die Geburtenkontrolle zwangsweise durchgesetzt wird, nicht mehr bestätigen. Es gibt heute keine hohe Dunkelziffer von Zwangssterilisierungen und -abtreibungen mehr. Die Möglichkeiten, diese Probleme in der Gesellschaft zu diskutieren, sind viel größer geworden.“

Der Erfolg der Ein-Kind-Politik lässt sich in einer einzigen Zahl bemessen: Nach Angaben des Pekinger Instituts für Bevölkerungsforschung (IPR) ist die Welt heute um 300 Millionen Chinesen ärmer als vom Bauern-und-Arbeiter-Volk ursprünglich vorgesehen. Das Bevölkerungswachstum in China lag 1999 nur noch bei 0,9 Prozent. „Andernfalls wären die Verteilungskämpfe heute unvorstellbar“, glaubt Leitner.

Doch neue Verteilungskämpfe stehen bevor. Denn je erfolgreicher die Geburtenkontrolle, desto größer das Altersproblem. Heute zählt man in China 130 Millionen Menschen, die über 60 Jahre alt sind. Das macht zehn Prozent der Bevölkerung. Doch im Jahr 2050 werden nach Angaben des IPR 400 Millionen Chinesen über 60 sein – ein Viertel der Bevölkerung. Mit 1,6 Milliarden Menschen soll China dann den Höchststand seiner zu erwartenden Bevölkerungszahl erreicht haben. Die Lebenserwartung läge bei über 80 Jahren (heute: 70 Jahre). Wer aber soll sich um die vielen alten Chinesen in Zukuft kümmern?

Ma Ying und Liu Jing graust jetzt schon davor, dass sie allein für ihre vier Eltern verantwortlich sind. „Unsere Generation wird schwer belastet sein“, sagt Ma. „Zwar erben wir mehr, aber wenn unsere Eltern krank werden, müssen wir ran.“ Aber noch ist es nicht so weit. Erst einmal wollen beide ihre Eltern mit Enkelkindern beglücken. Was für ein Opfer es für viele Chinesen bedeutete, nur ein Kind zu bekommen, wird schon bald in Vergessenheit geraten.

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