: „Diese Schweine“
Sie nennt es „Hormonzüchtung an Kindern“: Ein Opfer des Dopings im DDR-Sport erzählt die Geschichte ihrer Karriere, die aus dem Schwimmbecken auf die Nebenklägerbank führte
von KAREN KÖNIG
„Diese Schweine.“ Zwei Worte schrieb ich 1990 aufgebracht in mein Tagebuch. Mehr beiläufig und unter Gejohle war tags zuvor dieses „Das habt ihr auch bekommen“ gefallen. Doping. Ich also auch. Und drei Jahre nach Ende meiner Karriere sagte ich: „Ich habe immer noch welche von den Blauen im Schrank.“ Mein ehemaliger Trainer Klaus Klemenz ergänzte, ich könne doch noch einmal mit dem Schwimmen beginnen: „Dann zeigen wir es allen noch einmal.“ Eigentlich war das schon alles beim Wiedersehen unserer alten Schwimmgruppe bei ihm zu Hause.
Nun wusste ich es: Doping. Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Hatte man uns nicht immer eingehämmert, Doping gäbe es nur im Westen? Und waren wir nicht darauf abgerichtet, die zu leistenden Urinproben bei internationalen Wettkämpfen nicht aus den Augen und schon gar nicht unbeobachtet aus der Toilette zu reichen, da der kapitalistische Klassenfeind nur darauf wartete, uns Doping unterzumischen?
Doping? Was war das? Bis dahin ein Wort, nicht weiter vorstellbar. Tabletten ja, die kannte ich. „Vitamintabletten“ hatte ich während meiner Schwimmzeit beinahe täglich zu schlucken. Auch andere „Vitaminpräparate“ – wie die betreuenden Trainer, Ärzte versichterten – waren mir geläufig, ob nun in Pulverform oder als Spritze verabreicht. Um sich vorbeugend gegen Erkältungen zu schützen. War ich naiv, oder hatte ich als 14-Jährige nur versäumt meinen „Arzt oder Apotheker“ zu fragen?
1994 las ich Brigitte Berendonks „Doping“-Buch und begriff nicht nur, sondern erkannte die aufgezeigte systematische Vitaminvergabe im DDR-Sport wieder. Die blauen Pillen: „Oral-Turinabol“. In den geheimen Staatspapieren der DDR hießen sie euphemistisch „Unterstützende Mittel“ (U.M.). 1994 war auch die Arbeit der Zerv (Zentrale Ermittlungsstelle für Vereinigungs-und Regierungskriminalität), die die Fakten und Beweismaterialien zum flächendeckenden Doping an Minderjährigen in der ehemaligen DDR sammelte, vorangeschritten. Ich sagte dort aus und stellte Strafanzeige wegen Körperverletzung. Heute liegen 32 Strafanträge von ehemaligen SportlerInnen vor, hauptsächlich aus den Bereichen Schwimmen und Leichtathletik. Ist das viel? Es gab 12.000 Leistungskader.
Die Weiterbearbeitung lag nun in den Händen der Bundesrepublik als Rechtsnachfolgerin der DDR. Bis dahin hatte ich nicht geglaubt, dass es tatsächlich irgendwann zu einem Prozess kommen würde. Die Beweislage schien geradezu kläglich, während immer offensichtlicher wurde, wie viele der sportmedizinischen Akten die Stasi und deren Helfershelfer in aller Ruhe noch hatten vernichten können.
Als vier Jahre später die ersten Dopingprozesse begannen, konnte ich das erst richtig glauben, als ich auf der Nebenklägerbank saß. Mir gegenüber bekannte Trainer, Ärzte und Funktionäre des Schwimmverbandes der DDR. Ich war unangenehm berührt: Jetzt hockten diese Leute da, so scheinbar harmlos. Vor dem Richter entschuldigten sie sich mit der „Rädchen im Getriebe“-Theorie und natürlich „Unwissenheit“. Ein erbärmliches Bild. Hatte ich so ähnlich ausgesehen, als ich naiv „Vitamine“ schluckte und sie bereits über mich entschieden hatten? Als sie mit leuchtenden Augen Trainingspläne aufstellten, die Pillen vor mich hinstellten und längst im Medaillenrausch ihre Geldprämien zählten?
Dass ich nichts Neues erfahren würde, war schnell klar. Auch die Illusion, doch etwas über die Beweggründe dieser Hormonzüchtung an Kindern zu begreifen, hatte ich bald aufgegeben. Die Täter waren geständig und wurden mit geringen Geld- und Bewährungsstrafen nach Hause geschickt.
Dann der 2. Mai 2000. Der Prozess in der Strafsache Manfred Ewald und Dr. Manfred Höppner wegen Körperverletzung wird vor der 38. Strafkammer des Landgerichts Berlins eröffnet. Der Prozess gegen die beiden Drahtzieher des systematischen DDR-Kinderdopings. 142 Zeugen sind aufgelistet und 20 NebenklägerInnen zugelassen.
Manfred Ewald, von 1961 – 1988 Präsident des DTSB (Deutscher Turn- und Sportbund), Mitglied des ZK der SED, war als Vorsitzender der Leistungssportkommission (LSK) über „alle wesentlichen Dinge im Zusammenhang mit U.M. informiert und insoweit weisungsbefugt“. So die Anklageschrift. Dr. Manfred Höppner hingegen hatte sich von 1974 –1990 als Leiter der „Arbeitsgruppe Unterstützende Mittel“ (AG U.M.) und als Sektorenleiter des Bereichs Leistungssport II (LSII) des Sportmedizinischen Dienstes der DDR (SMD) verdient gemacht. LS II war Anfang 1975 als Fachabteilung speziell für die Organisation und praktischen Umsetzung von Anabolika-Einsatz zur Leistungssteigerung im Spitzensport gegründet worden.
Höppner hatte ich nie zuvor gesehen, auch sein Name war mir erst durch die Medien zum Begriff geworden. Ewald kannte ich noch als ideologischen Einpeitscher. Festveranstaltungen hatte ich während meiner aktiven Zeit viele erlebt. Ewalds fanatisches Schreien habe ich nicht vergessen, besonders wenn er mal wieder goldmedaillenlose Sportler als „Versager“ denunzierte.
Der 73-Jährige sitzt heute grinsend im Berliner Landgericht, nicht bereit, sich zu äußern. Vor dem Gerichtssaal vertraute Bilder: Die alten SED-Kameraden, die dem Genossen Ewald noch einmal die Hand schütteln wollen. Ewalds Verteidiger hat vergangenen Dienstag, am 3. Verhandlungstag, eine erneute medizinische Untersuchung seines Mandanten beantragt. Ewald sei zu krank, er könne dem Geschehen nicht folgen.
Höppner ist zynischer. In der zweiten Verhandlungsrunde verliest er seine Stellungnahme, die er poesievoll mit einem Brecht-Zitat einleitet: „Der große Sport fängt da an, wo er aufhört, gesund zu sein.“ Im gleichen Atemzug behauptete Höppner, dass „Ärzte von den Sportlerinnen und sogar Eltern um unterstützende Mittel gebeten wurden“. Aber sein „persönliches Motto“ sei immer gewesen: „Die Gesundheit geht vor Goldmedaillen.“
Glaubt er das selber? Ich habe den Begriff Vergangenheitsbewältigung nie für treffend gehalten. Diese Sammelbezeichnung gehört einer Mediensprache an, die zusammenfasst, was nicht zusammengehört.
„Diese Schweine“: Zwei Worte schrieb ich 1990. Nun gibt es Gesichter dazu. Höppner hätte statt bei Brecht lieber bei Hannah Arendt nachschlagen sollen. Arendt hat 1964 im Zusammenhang mit einer anderen Vergangenheitsbewältigung von der „persönlichen Verantwortung unter einer Diktatur“ gesprochen.
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