: Guter Kick
Das ist das Ende der Welt, wie wir es uns immer gewünscht haben: Don McKellars Film „Last Night“
Was würdest du tun, wenn heute Abend die Welt unterginge? Wer sollte dabei sein? Wie würdest du dich fühlen? Wohlgemerkt: Hier geht es nicht um einen hundsgewöhnlichen Jahrtausendwechsel, sondern das Ende aller Dinge. Armageddon. Kein Superheld wird den Wahnsinn stoppen. Und das Beste an der Sache ist: Du weißt seit Monaten Bescheid . . .
Natürlich ist „Last Night“ ein Millenniumsfilm, und natürlich bringt ihn der deutsche Verleih ein halbes Jahr zu spät in die Kinos. Aber besser spät als nie. Schließlich stellt der Film des jungen Kanadiers Don McKellar Fragen, die man sich jeden Tag stellen sollte. Vor allem aber gibt er interessante Hinweise, wie eine Welt ohne morgen aussehen könnte, ohne Hoffnung, ohne die eingebauten Sicherheiten und täglichen Rituale, denen wir jeden Tag unseres Leben opfern.
Es wäre keine schlechtere Welt. Im Gegenteil. Warum die Welt denn untergehen wird, spielt keine Rolle. Die meisten Menschen tun endlich das, was sie schon immer tun wollten. Der Radiosprecher redet endlich keinen Blödsinn. Craig arbeitet eine riesige Liste von Frauen ab, mit denen er schlafen möchte. Und keine sagt nein, auch nicht seine frühere Lehrerin.
Sicher, einige laufen Amok, nur für den Kick. Aber es sind viel weniger als vor ein paar Monaten, als die Menschheit noch dumm war und mit der einmaligen Chance nichts anzufangen wusste. Heute ist die Stadt voller Müll, sie kokelt ein bisschen, aber es herrscht eine melancholische, aufgeräumte, gelegentlich auch traurige Stimmung.
Der Mann von den Gaswerken, den David Cronenberg persönlich spielt, ruft jeden einzelnen Kunden an, um einen schönen letzten Tag zu wünschen. Im Übrigen sei die Gasversorgung bis zum Schluss sichergestellt. Das ist nicht banal und auch nicht nur komisch. Es ist wie eine Verheißung von einem anderen Stern, schöner als „Imagine“. Leider sind nicht alle mit ihrem baldigen Ableben einverstanden.
Sandra hasst den Gedanken, etwas dem Schicksal überlassen zu müssen und will sich mit ihrem Mann kurz vor Schluss erschießen. Aber es ist der falsche Moment für große Ziele. Eher für ein optimistisches Stadtindianertum. Die Busse fahren nicht, an Fortkommen ist nicht zu denken, und für alle anderen ist das auch in Ordnung. Am Ende schenkt ihr diese zärtlich-brutale Welt sogar eine neue Liebe. Schade, dass sie nicht lange dauern wird.
Mit einfachen Mitteln und ehrlicher Hingabe hat Don McKellar ein faszinierendes Weltuntergangsszenario gebastelt, das dem Massenausschuss von Paranoia Productions und Co. haushoch überlegen ist. Cronenberg sagt zwar völlig zu Recht, dass es sich hier um den kanadischsten Film aller Zeiten handelt. Aber weil Toronto nicht wirklich ein Gesicht hat, kann jeder den Film der eigenen Umgebung anpassen. Wie wäre es, wenn bei Kaiser’s Selbstbedienung herrschte? Weihnachtsgeschenke keine Rolle spielen würden? Dann könnte ruhig jeder Tag der letzte sein.
PHILIPP BÜHLER
„Last Night“. Regie: Don McKellar. Mit: Sandra Oh, Callum Keith Rennie, Sarah Polley, David Cronenberg. Kanada 1998, 94 Min.
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