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Höher, weiter!

Heute könnte Bayer Leverkusen erstmals Deutscher Fußballmeister werden – Balsam für die dürstende Psyche der Chemiestadt!

von NADINE LANGE

Natürlich ist die Stadt tief traumatisiert. Schon bevor es sie selbst gab, stand da eine Fabrik. Und nur wegen dieser Fabrik gibt es sie überhaupt. Niemals wird sie mehr sein als die Fabrik, und niemals wird sie ohne sie sein. Das ist das Schicksal von Leverkusen.

Die Stadt kann sich damit nur schwer abfinden. Deshalb verweisen ihre Einwohner immer gerne auf ihre tollen anderen Attraktionen: ein hübsches Barockschlösschen (kam in Helmut Dietls „Late Show“ vor!), ein renommiertes Jazzfest (Herbie Hancock war da!), ein paar denkmalgeschützte Fachwerkhäuser (nett, nett!). Dummerweise faszinieren NichtleverkusenerInnen diese Dinge weit weniger als Einheimische. Und so bleiben dann doch wieder nur Bayer und von Bayer gesponserter Sport.

Aber ist das so schlimm? Schließlich können nicht alle Städte einen Dom oder ein Brandenburger Tor haben. Leverkusen hat eben das Bayerkreuz. Immerhin: Mit 51 Metern Durchmesser und 1.712 Glühbirnen die größte Leuchtreklame der Welt – steht sogar im Guinness-Buch der Rekorde. Als Kind konnte ich es im Winter, wenn die Bäume keine Blätter hatten, von unserem Balkon aus sehen. Ich wusste: Da hinten muss mein Papa bis spätabends herumforschen, von da kommen unser Geld und die Wolken.

Bei Punkt drei lag ich falsch, aber so was kann bei Kindern, die in einer Bayer-Siedlung aufwachsen, schon mal passieren. Das Tolle an unserer Siedlung war, dass man gut draußen spielen konnte und die Häuser fast alle bunt waren. Das erleichterte Kindern die Wegbeschreibung: Unser Haus war das gelbe an der Verkehrsinsel mit den zwei Bäumen. Darin wohnten noch drei andere Familien, deren Väter auch alle „beim Bayer“ arbeiteten. Genau wie eine Straße weiter und genau wie noch eine Straße weiter. Manchmal zogen FreundInnen weg, weil ihre Väter an einen Firmenstützpunkt in Frankreich oder Brasilien geschickt wurden.

Dableiben war aber auch nicht schlecht. Mein jüngerer Bruder hatte das schon als Kleinkind begriffen. Als mein Vater eines Tages fand, dass es im Wohnzimmer recht unangenehm rieche, fragte er meinen Bruder: „Hast du die Windeln voll?“ Der Knirps zeigte kokett Richtung Werksgelände und sagte: „Das ist Bayer.“ Heute, ein Vierteljahrhundert später, wäre diese Ausrede nicht mehr brauchbar, weil sich die Firma geruchlich stärker zurückhält.

Wie eng die Stadt mit ihrem größten Arbeitgeber verbunden ist, zeigt bereits ihr Name: Der Apotheker und Chemiker Carl Leverkus hatte 1860 in Wiesdorf am Rhein eine Ultramarinfabrik errichtet. Nach seinem Tod verkauften seine Söhne das Gelände 1891 an die Wuppertaler Farbenfabriken Friedrich Bayer, die schließlich ihren Hauptsitz dorthin verlegten. Mit dem Werk wuchsen auch die Dörfer in der Umgebung. Vor siebzig Jahren wurden sie unter dem Namen Leverkusen zu einer neuen Stadt zusammengefasst. Nach Menschen benannte Städte sind übrigens sehr selten in Deutschland – noch so eine Spezialiät, die LeverkusenerInnen gern erzählen.

Bis 1975 kamen – manchmal widerstrebend – weitere Kleinstädte dazu. Inzwischen hat Leverkusen 160.000 EinwohnerInnen und durch die Eingemeindungen drei Stadtzentren. Ein bisschen nach vorn gedrängelt hat sich allerdings das Wiesdorfer Zentrum. Hier steht auch das Rathaus, in das nach jahrzehntelanger SPD-Regentschaft letztes Jahr mit Paul Hebbel ein CDU-Oberbürgermeister einzog. Er hat einen nicht sonderlich inspirierenden Ausblick: Die Leverkusener „City“ sieht aus, als wäre dort in den Siebzigerjahren ein Haufen riesiger Betonbauklötze auf die Erde gefallen, der in den Neunzigern hilflos mit Glas und Stahl verziert wurde.

Zufällig sind dabei aber einige großartige und einige skurrile Bauwerke entstanden. Etwas abseits liegt zum Beispiel der Wasserturm – eine wundervolle, grausilberne Raumstation, die seit über zwanzig Jahren auf einem dünnen Sockel parkt. Zusammen mit den ebenso spacigen, orange leuchtenden Scheinwerfern der Stadtautobahn wäre sie eine perfekte Kulisse für einen Science-Fiction-Film. Leider haben die LeverkusenerInnen das noch nicht erkannt und in einem ihrer Verschönerungsanfälle versucht, den Turm zu einem überdimensionalen Kompass umzugestalten: Oben prangt nun eine farbige Markierung, und an der Unterseite sind acht große Rauten zu sehen. Auch mit dieser Aktion wollte man ins Guinness-Buch – als Stadt mit dem weltgrößten Kompass.

Noch kühner gingen die StadtplanerInnen mit dem Rathaus um: An den grünschwarzen Klotz, Baujahr 1977, ließen sie vor der Jahrtausendwende einen lang gestreckten luftigen Glasanbau pappen, in dem nun Brötchen und Fotoarbeiten feilgeboten werden. Das kommt so gut an, dass man überlegt, gleich das ganze Rathaus in ein Kaufhaus umzuwandeln. Für die Verwaltung ist das Gebäude eh zu eng geworden.

Auch Bayer hat der Stadt einige interessante Häuser geschenkt. Das allerschönste liegt direkt an der Stadtgrenze zu Köln, ist 120 Meter hoch und heißt W1. Es ist wohl einer der einsamsten Wolkenkratzer der Welt, denn um ihn herum gibt es nur niedrige Gebäude und mit dem Japanischen Garten ein niedliches Vorzeigeschmuckstück der Mitarbeiterfürsorge. Zum 100. Geburtstag von Aspirin wurde der Turm letztes Jahr als Tablettenpackung verkleidet – noch ein Guinness-Buch-Eintrag!

Trotzdem muss W1 nächstes Jahr einem Neubau weichen. Als Bayerkind berührt mich so was schon. Mit neunzehn Jahren war ich für zwei Monate Werkstudentin und fand es irre spannend, mal im 26. Stock – der Vorstandsetage – etwas abzugeben. Ich habe extra rumgetrödelt, damit ich noch ein bisschen aus dem Fenster schauen konnte. Man sieht den Rhein und natürlich jede Menge Chemiewerk. Was von oben recht harmlos wirkt, ist unten eine eigene Stadt mit ziemlich vielen Warnschildern, die zum Tragen von Helmen und Schutzbrillen mahnen. Außerdem gibt es auf dem 3,4 Quadratkilometer großen Gelände eine extra Feuerwehr, eigene Taxis und spezielle rote Fahrräder (andere dürfen nicht rein). Die qualmenden und brodelnden Innereien des Werks sieht man von seinen Straßen aus nicht, auch nicht die Abwasserleitungen in den Rhein.

Den Kindern der Bayer-MitarbeiterInnen waren die schmutzigeren Details des großen Pillen- und Plastikmachers meistens völlig egal. Chemie war gut, Punkt. So sah ich das auch, denn schließlich gab es ihretwegen meinen Lieblingsort auf der Welt: den Hockeyplatz. Nachdem ich mit sieben Jahren beim RTHC Bayer Leverkusen zum ersten Mal mit einem krummen Stock gegen einen Korkball gehauen hatte, sehnte ich jedes Training und jedes Spiel herbei. Natürlich hatten wir auf unseren Trikots kleine Bayerkreuze, dafür aber auch eine sehr gut Klubanlage mit einer Halle nur für Hockey und einem der ersten Kunstrasenplätze in Nordrhein-Westfalen. Dort eiferte ich den HeldInnen des Vereins nach, die olympische Medaillen gewonnen hatten.

Rekorde, Rekorde. Ob Guinness-Buch, Medaillenspiegel oder Meistertitel – Leverkusen hat schon immer versucht, durch Bestleistungen auf sich aufmerksam zu machen und sein Image aufzupolieren. Und es funktioniert: Im Getümmel des Wettkampfes wird es irgendwann uninteressant, woher das Team oder die Sportlerin stammt. Man fiebert mit – egal wer der Sponsor ist.

Als ich im Fußballbildersammelalter war, hielt man noch nicht selbstverständlich zu Leverkusen. So hatte ich zum Beispiel eine kurze Phase als Hamburg-Fan, und in meiner Klasse gab es sogar einen Fan des Lokalrivalen 1. FC Köln. Heute ist es immer noch eine etwas verzwickte Sache, Leverkusen-AnhängerIn zu sein: Wer begeistert sich schon für eine Stadt, deren Vorzüge laut Vereinsmanager Reiner Calmund die Nähe zu Köln und Düsseldorf sowie das „tolle Autobahnnetz“ sind?

Außerdem kann man „Leeee-ver-kuuu-sen!“ ziemlich schlecht brüllen. Da bleibt dann nur noch „Bayer, Bayer!“, was auch komisch ist, weil in vielen Fällen der Name des eigenen Arbeitgebers. Vielleicht ist dies der Grund, weshalb es im Leverkusener Stadion – der BayArena – immer mal wieder vorkommt, dass die gegnerischen Fans mehr Lärm machen als die der Heimmannschaft.

Doch wenn die Kicker von Christoph Daum heute in Unterhaching Deutscher Meister werden, wird alles anders sein: Der Jubel der Leverkusen-Fans wird selbst noch im Münchner Olympiastadion zu hören sein. Danach werden sie glückstrunken zurück in ihre kleine, graue Stadt fahren, die für ein paar Tage glänzen und funkeln wird vor Freude.

NADINE LANGE, 27, ist gebürtige Leverkusenerin. Sie lebt als freie Journalistin in Berlin. Wenn Leverkusen Meister wird, pumpt sie ihren alten Autogrammball wieder auf

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