„Grabmahl“ in Oldenburg

■ Mit zwei beachtlichen Inszenierungen ging „Junges Gemüse“, das Festival für NewcomerInnen der Kulturetage, zu Ende

Ziemlich unstrukturiert und vor allem nordlastig war es schon, das NewcomerInnenfestival der Oldenburger Kulturetage. Zumindest im Theaterbereich dominierte das „Junge Gemüse“ aus der nahen Hansestadt Hamburg. Somit also durften sich auf der Bühne noch mal diejenigen messen, die das schon alljährlich in der Abschlussklasse des Hamburger Schauspiel- und Regiestudienganges tun. Und jetzt, meine Damen und Herren, der erste Platz geht an ... – tusch – , Branco Simics „Ein Grabmahl für Boris Dawidowitsch“.

Detailversessenheit und absolute Genauigkeit in der schauspielerischen Präsenz kennzeichnen diese Inszenierung. Nach Kampnagel war Oldenburg erst die zweite Station dieser Produktion, in der es endlich mal wieder nur um das eine geht: Schauspiel und Text. Um gutes Handwerk also, und das ist gerade in vielen freien Produktionen, die man in der Kulturetage und sonstwo zu sehen bekommt, leider zu oft unter einem Berg von Einfällen, Ausflügen in andere Sparten wie Tanz-, Video etc. (... und damit oft jeder Menge Müll) vergraben, wenn es denn dort überhaupt noch vorhanden ist.

Bei Branco Simic aber ist alles handgemacht. Hinter einer Wand brauner Pappkartons, die den Raum begrenzen, bietet eine Live-Band Klangsuggestionen an, verdichtet damit atmosphärisch die Bilder aus dem Leben des Revolutionärs, Anarchisten, Lebenskünstlers Boris Dawidowitsch, denen die Schauspieler hier auf der Spur sind. Wir befinden uns in einem Archiv. Mit bürokratischem Eifer werden Relikte aus dem Leben Dawidowitschs zusammengetragen und inventarisiert, werden zum Aufhänger einer Lebenserzählung.

Winzige braune Schuhe, die den Vierjährigen durch das Ghetto trugen, führen diese drögen Parteibürokraten in die Wirren seines Lebens. Immer stärker werden sie von bloßen Buchhaltern zu Betroffenen, von Erzählern zu Akteuren, die dem „bolschewistischen Hamlet“, dieser schillernden Archivchimere, Persönlichkeit, Gesicht und Stimme verleihen. In eng gefassten Rollenräumen entsteht ein lebendiges Geschichtspanoptikum, in dem die kalte, ideologische Vernichtungsmaschinerie als Faschismus sichtbar wird, die den Juden Dawidowitsch meint und das widerständige Unkraut „Individuum“ bekämpft, seiner Schlitzohrigkeit aber nie habhaft wird. Witzige Wendungen markieren diese Schlupflöcher der Figur, die sich im Handumdrehen aus der flugs umgebauten Kartonkulisse fortstiehlt und in eine andere Person hineinschlüpft.

Ulrich Gall, der akribische Oberinventarisierer mit nervösem Tick, und Charlotte Pfeifer, als Parteisoldatin mit faschistoidem Sex-Appeal, zeigten dann im Late-Night-Special des Festivalabends, dass sie auch noch auf einer ganz anderen Klaviatur spielen können. In einer freien Koproduktion mit den Musikern Alexander Hopf (P, voc), Nicolaus Haaf (git), Lars Köster und Benjamin Schaipp (dr.) mischten sie ein sehr schmackhaftes „musikalisch-theatralisches Waits-Bukowski Komp(l)ott“.

An Schnittstellen von Bukowskis Erzählung „Die schönste Frau in der ganzen Stadt“ streuen sie Songs von Waits ein, die lasziv-theatralisch vom Rand der Nacht berichten. Diesem Szenario zwischen West-End-Bar und schwangeren Fixerinnen verleiht die Hamburger Schauspielerin Susanne Polmeier mit nervöser Nonchalance – wie gerade aufgestanden und wieder aus der Bahn geworfen – feinnervige Dichte, flüchtig, wie der Zigarettenrauch im Raum. Gelungenes Finale einer insgesamt wenig überzeugenden Festivalauswahl. Marijke Gerwin