: Die GEW lernt laufen
Auf ihrem Bildungstag in Weimar erprobt die Lehrergewerkschaft neue Wege: Kaum Klagen und überhaupt keine Anklagen, stattdessen ein großer Selbstversuch der Pädagogen mit sich selbst
von REINHARD KAHL
Zwei Marionetten umarmen sich so intensiv, dass der einen bereits die Augen aus dem Gesicht quellen. Vor diesem Bild im Neuen Museum Weimar kommen Erinnerungen vom verclinchten Schulalltag hoch. Die Besucher werden von Jean-Christophe Ammann, dem polyglotten Direktor des Frankfurter Museums für Moderne Kunst, durch die Thüringer Hallen geführt.
Die Gruppe, die einen Nachmittag durch das Museum streift, ist eine von mehr als 50 Expeditionen beim Bildungstag der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in Weimar, der „Lernwege“ zum Thema gemacht und tatsächlich beschritten hat. Das ist neu. Kaum Vorträge. Keine Resolutionen. Kaum Klagen und überhaupt keine Anklagen. Vielmehr ein großer Selbstversuch der Pädagogen mit dem Lernen.
Über 1.000 Interessenten wollten nach Weimar kommen, aber nur nur für 300 war Platz. Sie trafen dort auf fast 100 Gäste, zumeist solche mit ganz besonderen Lernaffären. Ein Bergsteiger zum Beispiel oder der emeritierte Direktor des Max-Planck-Institut für Physik, Hans Peter Dürr, auch Schulreformer und Schüler, die selbst was auf die Beine stellen.
Der Museumsdirektor Ammann erzählte, wie er am Seismographen Kunst ablese, dass sich der Wind in der Gesellschaft dreht. Und wenn er seinen Finger in die Luft hält und die Bilderproduktion betrachtet, dann entdeckt er, was Wirtschaftswissenschaftler den sechsten Kondratieff-Zyklus nennen. Demnach läuft nach den Konjunkturen von Dampfmaschine, Stahl, Chemie, Automobil nun der Zyklus Informationstechnik aus. Künftig stehe das Psychosoziale an. Das heißt auch Bildung, vor allem aber Lernen, keine Belehrung.
Die Frage, ob die Schule in ihrer derzeitigen Verfassung wirklich dem Lernen dient, kann man nach Weimar nicht mehr bejahen. Der Physiker Hans-Peter Dürr, der es immerhin zum Max-Planck-Direktor und zum alternativen Nobelpreis gebracht hat, konnte sich an gar nichts erinnern, was in der Schule gelernt hat. „Ja, beigebracht hat man mir etwas, mit viel Aufwand sehr wenig, aber gelernt?“
Am meisten, meint Dürr, könne man von der Natur lernen, zum Beispiel, dass es besser sei, keine ganz klaren Ziele zu haben, sondern etwas verschwommene. Denn mit klaren Zielen könne einem nichts Schlimmeres passieren, als dass man sie erreicht. Dann wird man zum Kopisten, Anwender oder Ausführenden.
Wenn die Schule glauben macht, dass irgendwo ja schon das Wissen schwarz auf weiß steht, braucht sie keine Atmosphäre. Um fertiges Wissen als Stoff zu vermitteln, stört der Dialog. Und weil Atmosphäre in antiseptischen Klassenzimmern nicht aufkommt, weil die typischen Lehrerfragen keinen Dialog beginnen, wird die Schule so aufzehrend anstrengend und bleibt so skandalös unergiebig. Dann hat man am Ende nichts gelernt, außer der Schuldummheit, alle Probleme seiengelöst und die Lösungen irgendwo verfügbar.
Wie weiter? Eine starke Atmosphärenveränderung in der ganzen Bildung bringe nun ausgerechnet das Internet. Diese These stellte der junge Philosoph Mike Sandbothe zur Diskussion. Das Wissen werde jetzt endgültig ein unüberschaubares Meer, auf dem kein Binnenschiffer mehr zurechtkommt. Von Insel zu Insel zu surfen wird die angemessenere Bewegungsform.
Wenn nun der geschlossene Wissensraum in den alten Internaten von Internetstürmen durchweht wird, bekommen gerade dadurch die Orte und die Kommunikation unter Anwesenden eine neue Chance. Denn nur face to face kann sich bilden, was virtuell nicht gedeiht: Man selbst zu werden, herauszubekommen, was man selber will. Nur Personen, die selbst an ihrer Biographie arbeiten und sich dem Leben aussetzen, können andere mit dieser ansteckenden Gesundheit infizieren. Wir brauchen also eine Schule, die solche Menschen reinholt und ein Treibhaus, in dem deren Saat aufgeht. Das wäre die Schule in Zeiten des Internets und es ist genau die Schule, die Reformer immer schon wollten.
Was tun? Die Richtung für eine Lösung wurde in Weimar nur sparsam diskutiert und dafür stark praktiziert: Leute zusammenbringen, die anstecken und entzünden. Also müssen Lehrer solche begeisterte Menschensammler werden, wie Bernhard Eilbeck von der GEW, der den Bildungstag vorbereitet hat.
Und dann könnte es Schülern in der Schule so gehen, wie dem Abiturienten Niklas Marwedel. Abends im Hotelfoyer steht er eine Stunde mit Hans-Peter Dürr. „Booh“, sagt er anschließend, „heute hab ich mehr gelernt als im ganzen Leben.“
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