: Unantastbare jetzt antastbar
Aufarbeitung der Vergangenheit: Nicht nur in Chile, auch in anderen Ländern Lateinamerikas werden Ex-Diktatoren verklagt und verhaftet
aus San Salvador TONI KEPPELER
Ist Lateinamerika noch immer eine Kolonie? Im Guten wie im Schlechten? Es waren die Spanier, die mit Völkermord und Hacienda-Wirtschaft die autoritäre Basis schufen, auf der sich Jahrhunderte später Militärdiktaturen etablierten. Und es war wieder ein Spanier, der die juristische Aufarbeitung dieser dunklen Jahre in Angriff nahm. Seit Untersuchungsrichter Baltasar Garzón einen internationalen Haftbefehl gegen Augusto Pinochet erwirkte und den ehemaligen chilenischen Diktator im Oktober 1998 in London festsetzen ließ, ist etwas in Bewegung gekommen in Lateinamerika.
Der Bann ist gebrochen
In Chile wurden seither über dreißig Haftbefehle gegen Schergen der Diktatur erlassen, bis hinauf zum ehemaligen stellvertretenden Heereschef General Carlos Forestier. Gegen Pinochet liegen über 100 Klagen vor (siehe Kasten).
Auch in Argentinien werden Generäle verhaftet. Dort vor allem wegen der Entführung von Kindern, die von ihren verschleppten Müttern in den geheimen Kerkern der Diktatur geboren und dann verschenkt oder verkauft wurden. Und selbst im semifeudalen Zentralamerika, wo die Militärs in den Siebziger- und Achtzigerjahren brutal gewütet haben, kommt langsam etwas in Gang. Ganz ohne Zweifel war der Haftbefehl des Baltasar Garzón so etwas wie eine Initialzündung. „Pinochet war ein Mythos“, sagt der chilenische Soziologe Tomás Moulián. „Seine Verhaftung hat ihn entmythologisiert.“ Der Bann war gebrochen.
Zumindest regierungsamtlich soll dem spanischen Richter dafür nicht gedankt werden. Eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes sei das. Eine Verletzung der nationalen Souveränität. Um einen zweiten Fall Pinochet zu verhindern, warnte die Regierung vor einem Jahr noch 38 Militärs und ehemalige Regierungsfunktionäre der Diktatur vor Auslandsreisen.
Der Alte war schon aus London nach Hause geschickt worden, da änderte der Senat die Verfassung. Ehemalige Präsidenten – egal, ob sie durch Putsch oder Wahl ins Amt kamen – sollen in Zukunft lebenslang Immunität genießen. Das Gesetz war eingebracht worden, nachdem Pinochet sein Amt als ernannter Senator auf Lebenszeit angetreten hatte. Auch die Sozialisten hatten es unterstützt, um damit dem Ex-Diktator einen sanften Abgang aus der Politik zu ermöglichen. Als das Gesetz dann im März – jetzt gegen die Stimmen der Sozialisten – verabschiedet wurde, ging es schon um viel mehr. Die Frage ist nicht mehr: „Zieht sich Pinochet zurück oder nicht?“ Sondern: „Kommt er vor Gericht oder nicht?“ Bewegte Zeiten.
Doch selbst wenn er vor Gericht kommt: Der größte Teil der von ihm zu verantwortenden Morde wird ungesühnt bleiben. Dafür sorgt ein 1978 erlassenes Amnestie-Gesetz. Was ihn den Kopf kosten kann, sind die mehr als tausend Verschwundenen. Denn wo keine Leiche ist, gibt es in der juristischen Logik keinen Mord, sondern „nur“ eine Entführung. Und diese Entführung dauert noch immer an. Sie überwindet die Hürde der Amnestie.
Urteil, dann Amnestie
Wie die chilenische reagiert auch die argentinische Regierung gereizt auf den Richter Garzón. Präsident Fernando de la Rúa denkt nicht daran, 98 in Spanien ausgestellte internationale Haftbefehle zu vollstrecken, mit denen unter anderem die Junta-Mitglieder Leopoldo Galtieri, Jorge Videla und Emilio Massera gesucht werden. Und doch ist die Geschichte der juristischen Aufarbeitung der Militärdiktatur in Argentinien eine ganz andere.
Es gab Prozesse und es gab Verurteilungen. Gleich 1985, zwei Jahre nach dem Ende der Diktatur. Die Militärs hatten den Falkland-Krieg gegen Großbritannien verloren. Die starken Männer waren schwach. Man konnte sie verurteilen – um sie später zu amnestieren und zu begnadigen. Nicht die Diktatoren selbst, sondern das demokratisch gewählte Parlament besorgte 1986 und 1987 mit dem „Gesetz über den Befehlsnotstand“ und dem „Schlusspunkt-Gesetz“ eine Amnestie für mittlere und niedere Ränge. Die Bosse wurden 1990 vom damaligen Präsidenten Carlos Menem in einem präsidialen Akt amnestiert.
Jetzt hat der zweite Anlauf zur juristischen Aufarbeitung begonnen. Im September vergangenen Jahres wurde erstmals ein hoher Militär zu Entschädigungszahlungen verurteilt. Der ehemalige Marine-Chef Emilio Massera muss aus eigener Tasche rund 250.000 Mark an das einzige Mitglied einer Familie bezahlen, das in der Zeit der Diktatur nicht verschwunden ist.
Im Bürgerkrieg von El Salvador sind 8.000 Menschen verschwunden. Anfang der Achtzigerjahre hat die Armee systematisch mindestens 500 Kinder geraubt und verschenkt oder verkauft. Nach den meisten wird noch immer gesucht. Die Verantwortlichen der Entführungen sind bekannt. Und doch gibt es keine einzige Klage. In Guatemala wurden gar 45.000 verschleppt. Ebenfalls keine Klage.
Nach der Rechtslage wäre es in diesen beiden Ländern viel einfacher, ehemalige Diktatoren und Todesschwadrone vor Gericht zu stellen. Das guatemaltekische Amnestie-Gesetz bezieht sich nur auf direkte Kampfhandlungen. Und die salvadorianische Generalamnestie wurde so schlampig geschrieben, dass sie bereits auf den ersten Blick rechtswidrig ist.
Doch anders als in Chile und Argentinien ist die Straffreiheit in Guatemala und El Salvador nicht auf Gesetze gebaut, sondern auf Macht. „Wir haben gute Gesetze“, sagt der staatliche Menschenrechtsbeauftragte von Guatemala, Julio Arango. „Aber sie werden nicht angewandt.“ In El Salvador liegt seit zwei Jahren eine Verfassungsklage gegen das Amnestie-Gesetz vor. Sie wird schlicht nicht bearbeitet.
Die Mächtigen von gestern sind auch die Mächtigen von heute. Ex-Präsident Cristiani ist Vorsitzender der Regierungspartei Arena und der einflussreichste Unternehmer El Salvadors. General Efraín Ríos Montt, der blutigste Schächter Guatemalas, ist Präsident des Parlaments – mit Immunität. Solche Männer waren in Zentralamerika schon immer unantastbar.
Die Maya-Führerin Rigoberta Menchú, deren Vorfahren einst von den spanischen Eroberern geknechtet und ermordet wurden, ging deshalb nach Madrid, um Ríos Montt und Konsorten zu verklagen. Sie hat damit in Guatemala einige verärgert. Den Menschenrechtsanwalt Frank La Rue zum Beispiel, der seit über einem Jahr an einer Völkermordklage gegen Ríos Montt und seinen Diktatoren-Kollegen Romeo Lucas García arbeitet. Dutzende von Basisorganisationen der Opfer arbeiten ihm zu. Die Klage soll in Guatemala eingereicht werden.
Ein neues Bewusstsein
La Rue in Guatemala oder Untersuchungsrichter Guzmán in Chile sind weder Propheten einer neuen Zeit, noch stehen sie allein. Sie alle haben ein Netzwerk von Basisgruppen hinter sich. Die Klagen und Verhaftungen in Lateinamerika wären nicht denkbar, ohne die über Jahre aufrecht erhaltenen Demonstrationen der Angehörigen von Opfern.
Doch daneben hat sich auch ein neues Bewusstsein entwickelt. In Chile versammelten sich nach der Rückkehr Pinochets mehr als 50.000 in jenem Stadion, das nach dem Putsch als Folter-Arena gedient hatte. Am 20. Jahrestag des Mordes an dem salvadorianischen Bischof und Befreiungstheologen Oscar Arnulfo Romero gingen 15.000 auf die Straße. Beide Male waren es vor allem junge Leute ohne persönliche Erfahrung mit den Diktaturen. Die Alten mögen noch eingeschüchtert sein von der Gewalt der Vergangenheit. Aber immer mehr Junge wollen wissen, was war.
Der Soziologe Moulián sieht „so etwas wie eine metapolitische Protesthaltung gegen diese autoritäre Gesellschaft, die seit der Zeit der Kolonie auf Völkermord und Repression gebaut ist“. Im preußischen Chile tragen die jungen Männer langes Haar. Sie trinken Bier auf offener Straße, obwohl das gesetzlich verboten ist. Unter Studenten ist es Sport geworden, ehemalige Folterknechte zu outen.
Das alles erinnert an die späten Sechzigerjahre in Deutschland. Eine Generation hatte es gebraucht, bis die Söhne und Töchter zum ersten Mal ernsthaft und massenhaft danach fragten, was die Väter im Faschismus getan hatten. Das Interesse an der Vergangenheit war auf der Basis eines generellen Protests gegen die Verhältnisse der Gegenwart gewachsen, die als Fortsetzung dieser Vergangenheit mit anderen Mitteln verstanden wurde.
In Lateinamerika folgen Generationen schneller aufeinander. Dieselbe Basis begann in Chile schon vor der Verhaftung Pinochets in London zu wachsen. Der spanische Richter Garzón musste nur noch zeigen, dass auch Unantastbare antastbar sind.
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