: Jahrmarkt 2000
Die Expo ist Show. Milliarden sind verschleudert. Aber die Themenparks sind herrlich
von HEIKE HAARHOFF
Ohne die Post läuft hier gar nichts. Überblicksmäßig. Am besten, man sieht das sofort ein, anstatt Abenteuer zu wagen und damit bloß kostbare Zeit zu verlieren. Ein Tag zur Erkundung der Expo ist schließlich keine Ewigkeit. Also hin zu dem gelbschwarzen Gebäudewürfel der Post am Osteingang, rein in den Aufzug und erst ganz oben, im neunten Stock, auf dem Panoramadeck, eine der höchsten Erhebungen Hannovers, aussteigen. Schon ist die Welt wieder im Griff: 160 Hektar Messegelände (300 Fußballfelder!), 170 teilnehmende Länder (Weltrekord!), 31 Kilometer Stromleitungen, 16 Kilometer Gas- und Wasserleitungen, 5.000 neue Bäume und 17.000 neue Sträucher – die Expo in Zahlen macht Angst, die Expo von oben ist kein Problem. Und das geht nicht bloß provinziellen Zauderern so. Auch die Scorpions orientieren sich gerade vom Postdach aus, wo sie kommende Woche bei der Eröffnungsparty eigentlich ihre Expo-Hymne „Moment of Glory“ schnulzen werden.
Da liegen im Ostteil des Geländes wie andernorts Einfamilienhaussiedlungen brav die Pavillons der Nationen nebeneinander, also die Ausstellungsgebäude, in denen einzelne Länder ihre kulturellen, architektonischen oder historischen Highlights zur Schau stellen. Lettland, Litauen (ein Haus wie ein quietschegelber Kompakt-Fernseher aus den 70er Jahren, solchen Mut haben nur Litauer) und Estland nebeneinander wie im echten Leben, Rumänien und die Vereinigten Arabischen Emirate (Wüstensand und Palmen) als direkte Nachbarn auf Zeit. Dazwischen Baustraßen, Bagger, Pfützen, Sprachengewirr, Männer mit blankem Oberkörper, hier und da Buden, ein Riesenrad, eine Mischung aus Berliner Großbaustelle und Jahrmarkt, und, nicht zu verpassen, die Seilbahn, die quer übers Gelände gondelt.
Am Übergang zum Westgelände die Expo Plaza, der zentrale Platz und Treffpunkt. Daran anschließend im Westen, inmitten eines künstlichen Sees, angedeutet durch den Namen „Expo-Lake“, die Hauptbühne, über der gerade weiße Ballonlampen hochgezogen werden. Wenn das den Scorpions nicht würdig ist. Und schließlich die alten Hannoveraner Messehallen, die vorübergehend zu „Themenparks“ umfunktioniert wurden. Der geballte Sachverstand der Welt will hier länderübergreifend Antworten geben auf Herausforderungen des 21. Jahrhunderts wie „Mobilität, Zukunft der Arbeit, Wissen“, „Gesundheit, Energie“ oder schlicht „Mensch“. Ein bisschen viel für den Morgen.
Also erstmal zum deutschen Pavillon, gucken, wie sich das Gastgeberland so präsentiert. Ein Fehler, gewiss. Ein Unikat pro Bundesland, ausgestellt unter dem geschwungenen Dach eines Glashauses im Stil moderner Bahnhofshallen, so war es verabredet gewesen. Aber dann schoss Niedersachsen quer. Der altgermanische Speer, den das Land ursprünglich als Zukunftsvision beizusteuern glauben musste, stellte sich als gar nicht so alt heraus. Man behalf sich mit einem Volkswagenmodell, was in Baden-Württemberg (Ausstellungsobjekt: alter Benz) zu argen Verstimmungen führte, denn, so die Stuttgarter, „deutsche Autohoheit“ hätten, wenn überhaupt, nur sie. Schwierigkeiten machte auch Berlin. Nachdem man sich auf „ein Stück Mauer“ geeinigt hatte, stellte sich heraus, dass dieses leider vergriffen war. Und das Museum of Modern Art in New York war nicht gewillt, seine Berliner Mauer als Leihgabe für eine Weltausstellung, die den USA ohnehin zu blöd ist, nach Hannover zurückschiffen zu lassen. Schließlich zeigte das Museum am Checkpoint Charlie Mitgefühl. Sachsen und Rheinland-Pfalz griffen da lieber auf das zurück, was sie ohnehin zu Hause im Museum haben: gläserner Mensch und Gutenberg-Bibel. Doch die müssen vor Licht geschützt werden, so dass der transparente Glasbau nun leider mit dunkelgrauen Stofflappen verhangen ist.
Es gibt keinen besseren Ort, um Zustand und Befindlichkeit von Nationen zu begreifen, und allein deswegen schon ist jeder Tag auf dem Messegelände ein gewonnener. Frankreich beispielsweise stellt die Grande Nation in einem Flachdachcontainer vor, der praktischerweise bereits jetzt an ein Sportkaufhaus für die Nach-Expo-Zeit verkauft ist, und fast möchte man zur Fassadenverschönerung dransprühen: Expo? Je m‘en fous, bullshit, mir doch egal.
Slowenien dagegen hat als Dach eine überdimensionierte Blüte gewählt, die sich immer wieder öffnet und schließt, Kinkerlitzchen, sicher, aber wo, wenn nicht hier? Oder die Schweiz. So klug: Frisches Holz, das ohnehin vor der Verarbeitung getrocknet werden muss, wurde zu einem Labyrinth aus 50 Meter langen und neun Meter hohen Stapelwänden zusammengeschichtet. Japan gibt sich mal wieder zukunftsweisend mit einem 3.600 Quadratmeter großen Pavillon ganz aus recyceltem Papier. Aus dem isländischen Dach spuckt ein Geysir, Nepal hat seine Bevölkerung einen Tempel schnitzen lassen, Polen erprobte sich in Holzhäuschen im Western-Stil, und Äthiopien hat keine Kosten und Mühen gescheut, eine der 20 Meter hohen Granit-Stelen nachbauen zu lassen, damit die Welt sich wenigstens vorstellen kann, welche archäologischen Schätze derzeit im Krieg am afrikanischen Horn zu verschwinden drohen.
Wäre die Expo ein Grand Prix der Lebenswelten, dann hätten die Niederlande gute Chancen auf einen der vorderen Plätze: Weil Boden knapp und teuer ist, stapelten sie Landschaften einfach in einem Gebäude übereinander. Ganz oben auf dem Dach eine Insel im Wasser und daneben Windräder, auf der Ebene darunter Wald, richtige Eichen, die hier trotz der luftigen Höhe prächtig gedeihen und in denen Vögel zwitschern, darunter eine Ebene für Theater, Bühne, Veranstaltungen, dann eine für – nein, nicht Tulpen, aber Topfpflanzen.
Es ist ein bisschen wie ein Spaziergang durch eine Traumwelt, bizarre Formen ohne innere Verknüpfung und ohne tieferen Sinn, und gerade deswegen sehr schön anzusehen. Wer akzeptiert, dass die Expo Show ist, wer zugibt, dass das ganze Gerede über Natur-Mensch-Technik und die Nachhaltigkeit nur den Sinn hat, das schlechte Gewissen über den Spaß am Unnützen und Experimentellen, über den lässigen Umgang mit Milliarden und über den Wunsch nach Unterhaltung pur zu beruhigen, der kann die Weltausstellung genießen, auch und vor allem die Themenparks.
Die „Zukunft Gesundheit“ ist in einem angenehm abgedunkelten Saal zu entdecken. 120 Zahnarztliegen an einem künstlichen See stehen bereit. Man macht es sich gemütlich, und auf Knopfdruck bewegt sich die Liege. Ist nicht ganz so gut wie Massage, aber fast. Währenddessen ziehen an der Wand bewegte Bilder, ach was, spotting images!, vorbei, schwarze, abgemagerte, knopfaugige Kinder vor Strohhütte und Punks, denen es offensichtlich schlecht geht (Drogen?), das ganze Elend dieser Welt in ästhetisierter Form, vielleicht doch besser die Augen zumachen? Aber da hält der Film an, wird zu einem surrounded image, wie man auf der Expo sagt, und es flimmert ein Satz über die Leinwand, „wir können etwas tun“, wie schön, und alles wird gut, denn jetzt sehen wir Bilder von einer weißen Ärztin, die den schwarzen Kindern Medikamente gibt und dafür sorgt, dass sie zur Schule gehen, und die Punks (Untertitel: „Jugend lebt gefährlich – weltweit“) sehen auch gar nicht mehr so unglücklich aus, und wir drücken nochmal auf den Knopf, damit die Liege sanft weiter schaukelt.
„Wir haben versucht zu zeigen, was machbar ist“, sagt der freundliche Herr, der durch den benachbarten Themenpark „Mobilität, Zukunft der Arbeit, Wissen“ führt. Er zeigt auf einen modernen Bus, auf dessen Bestimmungszieltafel „Düsseldorf 21“ steht. Ziel sei, den öffentlichen Personennahverkehr „stärker zu vernetzen“.
Gut, dass es nebenan die Zukunft der Arbeit gibt, ein Tanztheater, das die Geschichte vom Jäger und Sammler über den Roboter bis zur Globalisierung besser und lebendiger erzählt als alle Worte. Wunderbar auch der Raum des Wissens, Schwarzlicht, Leere und 72 knie- bis hüfthohe geköpfte Eier, pardon, eiförmig gestaltete Roboter, die „in das Ambiente eintreten, als seien sie gerade auf dem Planeten gelandet“, erklärt der Expo-Führer, jedes Ei verfügt über ein autonomes Softwaresystem und reagiert auf Menschen, der Fachbegriff dafür ist Interaktivität: Man hockt sich hin, lehnt den Rücken gegen das Ei, und schon bewegt es sich, kuschelt sich an in dem Maße, in dem Eier kuscheln können, und auf der Oberfläche erscheinen bizarre Formen und Lichtblitze, und als wäre das nicht genug der Skurrilität, erdreistet sich eine Besucherin zu sagen, dass sich ihr das alles nicht erschließt.
Ihr sei das ChemiDrom empfohlen, der Pavillon der chemischen Industrie, wo sich jedem alles erschließt. Eine Geisterbahn durchfährt eine lange, dunkle Röhre, und von den Wänden spukt es: „Life is chemistry“. Sodann erscheint hinter einem Vorhang ein tänzelnder Mann, der es ganz offensichtlich auf eine Frau (wadenlanges Blümchenkleid, möglicherweise Zugeständnis an außereuropäische Besucher) abgesehen hat, wir erkennen: Hier stimmt die Chemie! Folglich kann auch alles nur gut sein, was kommt: Bakterienkiller, Psychopharmaka, irgendwelche wild miteinander reagierenden Moleküle.
Mir wird alles zu viel. Ich suche den „Planet of Visions“. Von der Decke hängen Plastiktannenbäume, Blütenträume und eine ausgestopfte Kreuzung aus Rehkitz und Einhorn. Sie spiegeln sich im See darunter. Der Raum heißt Paradies. Im Nachbarzimmer ist die eigene Kreativität gefragt. Es gilt, am Computerbildschirm Kristalle zu kreieren und diese, samt einem Wunsch, einer Vision, einer Utopie für das 21. Jahrhundert, an den Hallenhimmel zu beamen. „Steffen ist lieb“ und „Hallo Leute“, leuchtet es jetzt vom Himmel. Na ja. Ich schreibe: „Kauft die taz!“ Wenn das keine Utopie ist. Außerdem gilt es, den Geschäftsführer freundlich zu stimmen: Der smarte Elektroroller, ohne den die weitläufige Expo an einem Tag kaum zu packen ist, kostet 70 Mark Miete, jede schnöde Cola aus dem Automaten 4 Mark, von Essen, Hotel, Taxi, Seilbahnfahrt und Eintritt ganz zu schweigen. Aber herrlich, sage ich, herrlich war es. Im Kopf wimmelt es vor spotting und surrounded images.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen