Zu Gedächtnislücke vergattert

Ehemaliger Kommandeur der DDR-Grenztruppen muss sich wegen Anstiftung der letzten Mauerschützen verantworten. Zeugen können sich an den Befehl nicht mehr erinnern

Gestern, als der Tod des MfS-Chefs Erich Mielke bekannt wurde, begann vor dem Landgericht ein Prozess im Zusammenhang mit dem letzten Mauertoten. Angeklagt ist ein 42-Jähriger früherer Kommandeur der DDR-Grenztruppen. Er soll am 5. Februar 1989 einen inzwischen verurteilten Mauerschützen dazu angestiftet haben, auf den 20-jährigen Chris Gueffroy und dessen gleichaltrigen Freund zu schießen. Die beiden hatten versucht, über die Mauer von Treptow nach Neukölln zu fliehen. Bei der Durchführung der „Vergatterung“ – der Ausgabe des Einsatzbefehls für den Wachdienst vor Dienstantritt – soll er zumindest billigend die mögliche Tötung von Flüchtenden in Kauf genommen haben.

Der Angeklagte Ronald F., der mit leicht ergrautem Pferdeschwanz, Vollbart und grauen Latzhosen eher wie ein Friedensbewegter aussah, schwieg zu den Vorwürfen der Anstiftung zum Totschlag. Ein erster Zeuge entschuldigte sich mit einem Attest und dem Hinweis auf seine „schlechte Erinnerung“ an damals. Anschließend wurde ein ehemaliger Mauerschütze als Zeuge vernommen, der schon diverse Male im Zusammenhang mit der Tötung von Gueffroy vor Gericht stand. Beim ersten Mauerprozess 1992 wurde er wegen zweifachen versuchten Totschlags zu zwei Jahren auf Bewährung verurteilt. Der Bundesgerichtshof sprach ihn ein Jahr später frei, weil ihm trotz „versehentlichem Dauerfeuer“ kein Tötungsvorsatz nachgewiesen werden konnte.

Der Schütze, von Beruf Kraftfahrer, wirkte gestern äußerst geknickt und mitgenommen. 1992 hatte er gesagt, dass das, „was passiert ist, mich wohl bis zum Ende meines Lebens beschäftigen wird“. Bei seiner letzten Vernehmung vor sechs Jahren hatte der heute 36-Jährige erklärt, dass die Vergatterung am 5. 2. 1989 durch Ronald F. stattfand. Er könne es jedoch nicht „beschwören“. Gestern erklärte er, er wisse es nicht mehr.

Dem Angeklagten bescheinigte der Zeuge, „ein guter Offizier“ gewesen zu sein, der „die Leute wirklich gut führen konnte“. Nach einer Reihe von Fragen zu seiner letzten Vernehmung kamen ihm die Tränen. „Ich war ganz normal bei der Armee, habe Frau und Kind zu Hause, und plötzlich wird man als Verbrecher dargestellt“, sagte er.

Der Vorsitzende Richter zeigte Verständnis und wünschte dem Zeugen, „dass Sie nicht zum Berufszeugen werden“. Der Anwalt des Angeklagten, Johannes Eisenberg, gab sich dagegen hart. „Das kann keiner garantieren“, sagte er. Das rief dann selbst den Staatsanwalt auf den Plan: „Gegen keinen Mauerschützen, der freigesprochen wurde, gab es ein neues Verfahren.“ Der Vorsitzende Richter ergänzte: „Der Zeuge gehörte zu denen, die unter der Sache leiden.“ Unter Tränen verließ der Mann den Saal. Der Prozess wird am kommenden Mittwoch fortgesetzt. B. BOLLWAHN DE PAEZ CASANOVA