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„Sachverständige sind in Panik“

Die Vorsitzende des Rechtspsychologenverbandes Irmgard Antonia Rode will Gutachter zu Teamarbeit verpflichten und fordert Therapie statt Strafvollzug

Interview ULRIKE WINKELMANN

Bevor Zurwehme in den offenen Vollzug verlegt wurde, aus dem er dann floh, gab es einen Gutachterstreit um seine Gefährlichkeit. Wie kann es passieren, dass ein verurteilter Mörder herumläuft, von dem auch die Experten nicht wissen, ob er rückfällig wird?

Irmgard Antonia Rode: Ich glaube, nicht die falsche Einschätzung einer möglichen Gefährlichkeit war in Zurwehmes Fall ausschlaggebend, sondern die Uneinigkeit der Psychiater und Psychologen über die Notwendigkeit, ihn drinzuhalten. Er ist schließlich erst Amok gelaufen, nachdem ein Gutachten überraschend negativ ausfiel und seine lange gehegten Hoffnungen, bald ein normales Leben führen zu können, zunichte machte.

Lässt sich solch ein Hin und Her von Gutachter-Aussagen vermeiden?

In jedem Einzelfall sicher nicht. Und Zurwehme halte ich für einen Einzelfall. Man muss sich jedoch vorstellen, dass Häftlinge wie Zurwehme vollständig in der Hand von Gutachtern sind, die mindestens alle drei Jahre über ihre Gefährlichkeit urteilen. Wenn der Zeitpunkt einer möglichen Entlassung näher rückt, lässt sich so jemand nichts, aber auch gar nichts mehr zu schulden kommen. Der Häftling lebt nur noch auf die Entlassung hin. Fünf Jahre lang wird dann jede Haschzigarette abgelehnt.

Zurwehme hat sich in der Zeit seines offenen Vollzugs ein Leben als Koch außerhalb des Gefängnisses aufgebaut. Man machte ihm Mut. Und dann kam das negative Gutachten, aufgrund dessen das Landgericht Bielefeld befand, er müsse drinbleiben. Man kann sich gar nicht vorstellen, was passiert, wenn durch so einen Beschluss jahrelange Arbeit und Disziplin weggefegt werden.

Worauf beruhen solche Gutachten?

Auch Gutachter bekommen nur einen Querschnitt der jeweiligen Persönlichkeit mit. Deshalb ist es so wichtig, dass interne, also Anstalts-Sachverständige und externe Sachverständige ihre Aussagen abgleichen. Wenn man es mit einem Menschen zu tun hat, der die Hälfte seines Lebens oder länger ununterbrochen in Haft sitzt, ist dieser Mensch in der Regel hochgradig angepasst an die Begutachtungssituation . . .

. . . im Knastjargon spricht man zuweilen von „Haftautomaten“ . . .

. . . und wird natürlich selbst so ungefährlich wirken wollen wie möglich. Das heißt, dass bestimmte Ungleichmäßigkeiten, etwa ein vollkommen aggressionsloses Verhalten, beim einen Gutachter Alarm auslöst und vom anderen für eine Rückkehr in die Normalität gehalten wird. Das Betreuungsverhältnis in den Anstalten von Psychologen zu Häftlingen ist in der Regel so schlecht, nämlich etwa 1:100, dass Zeichen nicht verlässlich gedeutet werden können. Zu einem Vertrauensverhältnis kommt es so nur selten.

Alles andere wäre teurer.

Wenn die rauskämen, die überflüssigerweise sitzen, weil sie fälschlich für gefährlich gehalten werden, würde der Staat Unsummen sparen. Das ist doch die Crux: Unzählige Menschen müssen drinbleiben, weil die gesamte Gutachter-Szene so einen Schiss hat, dass etwas schief geht. Jede Anstalt hat einen Fall, wo jemand rückfällig wurde. Daraufhin verschärft sich der öffentliche Druck so sehr, dass jahrelang keiner mehr rauskann.Diese Tendenz beobachte ich seit zehn Jahren und seit den spektakulären Morden 1997 (an Natalie Astner und Kim Kerkow) noch verschärft: Der Druck der Öffentlichkeit verhindert angemessene Begutachtung, die Sachverständigen sind in Panik und neigen dazu, ihre Klienten eher zu lange festzuhalten.

Das neue Strafvollzugsgesetz, das nach den beiden Morden von 1997 geschrieben wurde, verlangt doch auch mehr Therapiemöglichkeiten.

Ja, das stimmt, und die Länder bemühen sich auch, dem nachzukommen. Aber so schön das auch klingt – darin offenbart sich erst das Problem des Strafvollzugs. Ich behaupte: Angebunden an den Strafvollzug kann Therapie nicht funktionieren. Man kann Heilbehandlung nicht unter der Regie von Juristen machen. Es ist schlichtweg inkonsequent, Therapeuten von außen in das Gefängnis zu holen, wo sie Schwerstverbrecher dann fit für die Gesellschaft machen sollen. Die Therapeuten werden immer abhängig vom Anstaltsleiter bleiben.

Aber soll man alle Gewaltverbrecher in einer Psychiatrie therapieren?

Die meisten Schwerstverbrecher gehören nicht ins Gefängnis, sondern in Behandlung. Doch das deutsche System funktioniert genau umgekehrt: Höchstens ein Zehntel der Gewaltverbrecher wandert in den Maßregelvollzug. Das ist falsch. Vorbild könnte hier das holländische Modell sein. Alle schweren Gewalttäter werden dort zentral untersucht und dann in eine Langzeittherapie oder in eine ambulante Betreuung gesteckt.

Keiner in den Knast? Haben die Holländer kein Strafbedürfnis?

Es wird dort einfach für vernünftig gehalten, Verbrecher zunächst zu therapieren. Strafe ist dort ein letztes Mittel der Wahl. Wenn sich die Täter weigern, werden sie immer noch in den Knast gesteckt.

Aber dann wird ihnen der Wille zur Therapie aufgezwungen.

Aufgedrückte Motivation kann sich durchaus in Eigenmotivation verwandeln.

Wie vermeiden die Holländer das Gutachter-Problem?

Zentraler Punkt ist, dass die Menschen von einer Kommission untersucht werden. Hierzulande ist es üblich, dass sich die Psychiater, besonders die älteren, die als „erfahren“ und „reputiert“ gelten, in ein stilles Kämmerlein zurückziehen und dort ihr Urteil treffen. Das entspricht auch dem Bedürfnis des Gerichts nach einem Einzelurteil einer Autorität. Dadurch ist die Gefahr besonders groß, dass eigene Wertvorstellungen und Vorurteile in die Begutachtung Eingang finden. Gutachten müssen jedoch besprochen und kritisiert werden können. In meiner Laufbahn habe ich etwa 700 Gutachten gelesen. Unendlich viele von ihnen waren in sich unschlüssig, schlecht argumentiert oder hatten sogar fatale Lücken und logische Brüche. In einer Studie habe ich festgestellt, dass ein Dutzend verschiedener Psychiater bei durchaus gleicher Diagnose von Verbrechern zu gänzlich widersprüchlichen Schlussfolgerungen kommt, was deren Schuld- und also Zurechnungsfähigkeit angeht. Das heißt, dass die Urteile über die Steuerungsfähigkeit etwa von Sexualmördern von persönlichen Wertvorstellungen geleitet werden.

Wie will man Gutachter zur Teamarbeit verpflichten?

Die Föderation Deutscher Psychologenvereinigungen hat für sich eine 3-jährige Weiterbildungsmöglichkeit eingerichtet. Beabsichtigt ist, die forensische Psychologie aus ihrem Schattendasein herauszuholen und die Leute endlich besser auszubilden. Denn bislang gibt es überhaupt keine gesonderte Ausbildung für Gutachter und damit auch kein Forum für die Tücken der Begutachtung. Die Ausbildungsordnung dafür ist seit 1. 1. 2000 in Kraft. Darin verpflichten wir uns auf Zusammenarbeit. Ich kann den Psychiatern nur nahelegen, Gleiches zu tun.

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