: „Was sein muss, muss sein“
Bei der 72. Bomben-Entschärfung im Landkreis Oranienburg seit der Wende sitzen evakuierte Rentner im Kulturhaus, während sich die Experten die Blumen und den Sekt hart erarbeiten
von BARBARA BOLLWAHN DE PAEZ CASANOVA
Es ist sieben Uhr morgens. Vor dem Grundstück am Havelkorso Nummer 19 im 2.500-Seelen-Dorf Lehnitz ist der Tag schon in vollem Gange. Trotz saftigen Grüns und gemütlichen Kopfsteinpflasters will nicht das Bild eines Idylls entstehen. Statt Vogelgezwitscher hört man eine laute Pumpe, Wachschützer und Polizisten patrouillieren durch die Straße, Männer in roten Uniformen stehen mit konzentrierten Gesichtern beisammen, Absperrgitter blockieren den Zugang zum Garten für Unbefugte.
Dort sieht es aus, als sei eine Bombe eingeschlagen. Auf dem Grundstück ist auch tatsächlich eine Bombe eingeschlagen – im Zweiten Weltkrieg. Weil der chemische Langzeitzünder aber nach unten liegt und das Azeton in der Glasampulle nicht mehr wirken kann, ist sie bisher nicht detoniert. Um das auszuschließen, hat eine Kampfmittelräumfirma vergangene Woche rings um die Fundstelle eine riesige Grube ausgehoben. Die Berliner Besitzer des Wochenendhauses wussten zwar, dass sie sich auf einem als munitionsbelastet geltenden Grundstück erholen. Erst als sie für eine Baugenehmigung eine „Munitionsfreiheits-Bescheinigung“ inklusive Sondierung des Geländes beantragten, erfuhren sie aber, dass dort eine 500-Kilo-Bombe liegt. Unmittelbar nach dem Fund wurden sie evakuiert – an ihren Hauptwohnsitz Berlin. Die Bewohner des Hauses direkt nebenan kamen in eine Pension. Der Sprengmeister hofft, um 14 Uhr Entwarnung geben zu können.
Dora Werner aus dem Haus gegenüber lehnt gelassen am Gartenzaun. Sie gehört zu den 2.000 Anwohnern in dem Sperrkreis von 800 Metern, die bis 8 Uhr ihr Haus verlassen müssen – wieder einmal. Die 61-jährige weiß nicht mehr genau, wie oft sie schon vor Blindgängern flüchten musste. „Vier oder fünf Mal müssen es gewesen sein“, sagt sie, einmal sogar für zwei Wochen. Da hatte die Gemeinde Bungalows am See zur Verfügung gestellt. Aber sie klagt nicht. „Jede entschärfte Bombe ist eine Gefahr weniger.“ An diesem Mittwoch, als die 72. Bombe im Landkreis Oranienburg seit der Wende entschärft wird, will sie die Zeit für eine Einkaufsfahrt nach Berlin nutzen. Für den Enkel Computerspiele, für sich ein Paar Latschen – „was so angefallen ist“ seit der letzten Tour. Als Feuerwehr- und Polizeiautos eine Minute nach 8 Uhr die abschließende Kontrollfahrt durch den Sperrbezirk machen, startet sie ihren weißen Opel.
Hinter sich lässt sie die Bombe, die sich vor 55 Jahren mit 225 Metern pro Sekunde 5,50 Meter tief in den Boden gegraben hat. Um den Zünder freizulegen, haben der Feuerwerker Peter Kockel und seine Kollegen eine sieben Meter tiefe Grube gegraben. Der 49-Jährige ist schon lange im Geschäft. Zwanzig Jahre lang war der ehemalige Oberstleutnant beim raketen- und waffentechnischen Dienst der Nationalen Volksarmee. Nach der Wende ging „sein“ 40.000-Tonnen-Munitionslager an die Bundeswehr. „Zwei Jahre durfte ich noch als General dienen“, erzählt er. Nach 14 Tagen Arbeitslosigkeit und einem Management-Kurs – „Da habe ich gelernt, wie ein Briefkopf und eine Krawatte auszusehen haben“ – hat er ein halbes Jahr bei einer Räumfirma geschippt und eine Prüfung als Feuerwerker gemacht. Seitdem hat er seinen eigenen Betrieb. Die Mitarbeiter haben dicke Eisenspundwände 13 Meter tief in die Grube eingelassen und Kies, Torf und feuchte Strohballen um die 1,35 Meter lange und 48 Zentimeter dicke Bombe gelegt. Um den Druck zu mindern, falls gesprengt werden muss.
Kockel und Sprengmeister Horst Reinhardt vom staatlichen Munitionsbergungsdienst haben zwar einen gefährlichen Job, sie sind aber nicht lebensmüde. Deshalb legen sie ein 130 Meter langes Kabel vom Zünder bis zur Garage einer Pension am Ende der Straße. Von dort aus wird der Sprengmeister versuchen, den Zünder herauszudrehen. An einem Monitor kann er sehen, ob es geht. Doch bis es soweit ist, muss der Zünder, der von einer Kiesschicht bedeckt ist, gründlich gereinigt werden.
Während die Experten ihr Geld hart verdienen müssen, drehen viele Anwohner Däumchen. Der Friseurladen ist zu, der Kindergarten, der Blumenladen und das Geschäft der „1000 kleinen Dinge“ ebenso. Die Postfrau macht bis zur Entwarnung ihre Wohnung außerhalb des Sperrbezirks sauber. Bis auf zwei Schnellzüge, für die die Entschärfung unterbrochen wird, fahren keine Bahnen. Wer nicht arbeitet oder bei Freunden ist und keine Lust auf das Einkaufszentrum in Oranienburg hat, trifft sich im Kulturhaus Lehnitz, etwa 500 Meter außerhalb der Sperre. An den anderen von der Gemeinde angegebenen Orten ist niemand. Das ist nicht verwunderlich. Die Gaststätte „Eisbein-Otto“ ist geschlossen, der Sitzungssaal im Schloss Oranienburg zu weit weg. Die wenigen Rentner und Rentnerinnen, die sich an zwei Tischen in dem riesigen Saal des Kulturhauses verlieren, sind ein klares Indiz dafür, dass sich auch bei dieser Evakuierung wieder viele Alte zu Hause versteckt halten. Die sich an die Vorschriften halten, dösen vor sich hin, schenken sich für fünfzig Pfennig pro Tasse Kaffee ein, lauschen der Schlagermusik, die aus einem alten DDR-Radio kommt oder lösen Kreuzworträtsel, so wie eine 91-Jährige. „Immer, wenn ich so eine Evakuierung erlebe, denke ich: Ach Gott, du hast die Bombenangriffe überlebt und jetzt bin ich so alt, da ist das scheißegal.“
Auf einer Bank vor dem Kulturhaus sitzt der 67-jährige Martin Erett. Neben sich hat er einen Rucksack mit Papieren, Bier, Brötchen und Karten drin. Doch er hat niemanden zum Skatspielen gefunden. Mit dem Mann auf der Nebenbank will er nicht. „Der ist ein alter Tattergreis.“ Auch ihre Hunde, Dackel „Franzi“ und der Mischling „Heiko“, gehen sich aus dem Weg. So bleibt Erett nach einem nur kurzen Gespräch allein auf seiner Bank. Er hat die Bombenangriffe 1945 miterlebt. „Hundert Meter neben mir ist eine Bombe explodiert, da war ich zwölf Jahre alt.“ 1991 ist – vierzig Meter neben ihm – eine Bombe detoniert, als er gerade Laub im Garten harkte. „Das muss man erst mal verkraften“, erzählt er weiter. „Das war kein Glück, der liebe Gott muss bei mir gewesen sein.“ Mit einem Heidenschreck und einem kaputten Dach kam er davon. Das Haus nebendran wurde total zerstört. „Die Angst steckt in den Knochen“, sagt er. Trotzdem versucht er, gelassen zu bleiben. „Was sein muss, muss sein.“
Um 14.15 Uhr ertönt eine Sirene, dreißig Sekunden lang. Sprengmeister Reinhardt und Feuerwerker Kockel haben gute Arbeit geleistet. Der Zünder ging problemlos raus. Dafür bekommen sie unter Teilnahme der örtlichen Presse vom Bürgermeister Blumen und halbtrockenen Rotkäppchen-Sekt. Den nächsten Einsatz hat Kockel nach Pfingsten: Auf dem Nachbargrundstück wird eine Bombe vermutet.
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