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Von Absicht keine Rede

Die Nato hat bis heute keine Angaben über getötete oder verwundete Zivilisten im Krieg gegen Jugoslawien gemacht

von ANDREAS ZUMACH

Das UNO-Kriegsverbrechertribunal zu Jugoslawien hat auf die vielfältige Kritik an seiner Anfang Juni verkündeten Entscheidung, wegen des Luftkrieges gegen Jugoslawien vom Frühjahr 1999 keine Ermittlungen gegen die Nato aufzunehmen, reagiert. Es veröffentliche am Dienstag zur Rechtfertigung dieser Entscheidung den gesamten 44-seitigen Bericht eines im Mai 1999 eingesetzten internen Ausschusses.

Dieser hatte zu untersuchen, ob „glaubwürdige“ und für einen eventuellen späteren Prozess potenziell „beweiskräftige“ Informationen über etwaige Verbrechen vorliegen, die die Aufnahme eines formalen Ermittlungsverfahrens gegen die Nato rechtfertigen.

Der Ausschuss kam in allen Punkten zu einem negativen Befund. Der Ausschuss übernahm zu allen von ihm untersuchten Bombenangriffen der Nato die öffentlich verbreitete Version der Allianz, stellte zugleich aber fest, dass die Nato Antworten auf spezifische Nachfragen ebenso verweigerte wie Gespräche mit den Militärs, die die untersuchten Bombenangriffe ausgeführt und angeordnet haben.

Von verschiedener Seite wurde die Chefanklägerin des Tribunals, Carla del Ponte, aufgefordert, wegen folgender etwaiger Verstöße der Nato zu ermitteln:

1. „Völkermord“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“;

2. illegaler, weil vom UNO-Sicherheitsrat nicht mandatierter und auch ansonsten durch die UNO-Charta nicht gedeckter Angriffskrieg;

3. Verstöße gegen das in den Genfer Konventionen, ihren Zusatzprotokollen sowie weiteren internationalen Vereinbarungen kodifizierte Kriegsvölkerrecht durch a) beabsichtigte Angriffe gegen zivile Infrastruktur; darunter Angriffe, die Umweltschäden verursachen; b) Angriffe gegen Zivilpersonen, die entweder mit Absicht erfolgten oder mangels ausreichender Rücksicht.

Die Vorwürfe des „Völkermords“ sowie von „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ werden in dem Bericht ohne weitere Stellungnahme lediglich aufgeführt. Zum Verbrechen des „Angriffskriegs“ verweist das Tribunal auf die Zuständigkeit des Internationalen Gerichtshofs.

Der Ausschuss stützte seine Untersuchung etwaiger Verstöße gegen das Kriegsvölkerrecht ausschließlich auf öffentlich verbreitete und zugängliche Erklärungen und Dokumente derjenigen, die das Tribunal zu Ermittlungsverfahren gegen die Nato aufgefordert haben, sowie aus folgenden Quellen: Nato, Verteidigungsministerien der USA und Großbritanniens, Regierung Jugoslawiens, Kommission der russischen Duma, UNO-Umweltorganisation, amnesty international und Human Rights Watch. Grundlage der Arbeit waren außerdem Zeitungsartikel, Untersuchungen des Deutschen Ekkehard Wenz zu zwei seinerzeit heftig umstrittenen Luftangriffen der Nato sowie ein allgemein gehaltenes Antwortschreiben der Allianz vom 10. Mai dieses Jahres auf einen spezifischen Fragenkatalog, den der Ausschuss am 8. Februar nach Brüssel übermittelt hatte.

Angaben über getötete und verwundete Zivilisten hat die Nato bis heute keine gemacht. Human Rights Watch hat die Auswirkungen von 90 Luftangriffen vor Ort in Jugoslawien untersucht und kam zu dem Ergebnis, dass dabei zwischen 488 und 523 Zivilisten getötet sowie 824 verwundet wurden.

Der Tribunalausschuss nennt diese Zahlen „glaubwürdig“ und „realistisch“ und macht sie sich zu eigen. Der Bericht listet 21 Luftangriffe auf, bei denen Zivilisten getötet und verwundet wurden, darunter zehn Angriffe mit jeweils mindestens zehn Todesopfern. Für alle diese 21 Fälle übernimmt der Ausschuss die Version der Nato, wonach kein absichtlicher Angriff auf Zivilpersonen erfolgte und auch kein „rücksichtsloser“ Angriff – das heißt ein Angriff auf militärische oder zivile Anlagen, bei dem die Nato tote oder verwundete Zivilisten billigend in Kauf genommen hätte.

Der Ausschuss macht sich auch die Position der Nato zu eigen, wonach sämtliche absichtlichen Angriffe auf zivile Infrastruktureinrichtungen (Brücken, Fabriken etc.) mit dem Kriegsvölkerrecht vereinbar gewesen seien, weil diese Einrichtungen auch eine militärische Funktion gehabt hätten.

Je ein eigenes Kapitel enthält der Bericht zu den fünf Luftangriffsoperationen, die seinerzeit die stärksten öffentlichen wie auch Nato-interne Kontroversen auslösten und auch nach Einschätzung des Ausschusses die „problematischsten“ waren:

1. Der Angriff auf einen Eisenbahnzug auf einer Brücke über der Grdelica-Schlucht, bei der am 12. April 99 mindestens 10 Zivilisten getötet und mindestens 15 zumTeil schwer verletzt wurden. Der Ausschuss übernimmt die Darstellung der Nato,wonach die Brücke ein legitimes Angriffsziel war, der Pilot des Kampfflugzeuges vor allem aufgrund seiner Flughöhe beim Abschuss seiner beiden lasergesteuerten Bomben aber den auf die Brücke fahrenden Zug nicht sehen konnte. Die Untersuchung des Deutschen Ekkehard Wenz, wonach der Pilot durchaus genug Zeit gehabt hatte, den Zug zu erkennen und den Abschuss der Bombe zu stoppen, wird verworfen.

2. Der Angriff auf einen Fahrzeugkonvoi auf der Straße von Djakovica nach Prizren, bei dem am 14. 4. 1999 rund 75 Zivilisten getötet und etwa 100 verletzt wurden. Obwohl der Ausschuss selbst feststellt, dass zahlreiche Details dieses Zwischenfalls, darunter die Zahl der von der Nato eingesetzen Flugzeuge, bis heute nicht geklärt sind, übernimmt er die Darstellung der Allianz, wonach die Piloten wegen ihrer Flughöhe von rund 5 Kilometern nicht erkennen konnten, dass es sich nicht um einen Militärkonvoi handelte.

3. Für vom Völkerrecht gedeckt hält der Ausschuss auch den absichtsvollen Angriff der Nato auf das staatliche Fernseh-und Rundfunkgebäude in Belgrad (23. 4.; 10 bis 17 Tote), weil – so die damalige Hauptbegründung der Nato – die Antennen auf dem Gebäude zugleich eine militärische Kommandofunktion gehabt hätten. Die ebenfalls von einigen Nato-Regierungen angeführte Begründung, der Sender sei als Propagandazentrale des Milošević-Regimes ein legitimes Ziel gewesen, verwirft der Ausschuss allerdings. Nicht klären konnte der Ausschuss, ob die Nato vor ihrem Angriff alles Erforderliche und Mögliche unternommen hat, um die jugoslawischen Beschäftigten des Senders zu warnen (die internationalen Journalisten waren gewarnt und verließen das Gebäude rechtzeitig).

4. Den Nato-Angriff auf die chinesische Botschaft (7. Mai; 3 Tote, 15 Verwundete) wertet der Ausschuss in Übereinstimmung mit der Nato als einen bedauerlichen Fehler. Die Piloten des Kampfflugzeugs könnten nicht verantwortlich gemacht werden, weil sie – nach Angabe der Nato und des Pentagons – falsche Zielvorgaben erhalten hätten. Aber auch diejenigen im Pentagon, die diese falschen Zielvorgaben machten, sind laut Ausschuss juristisch nicht haftbar zu machen, da sie sich ihrerseits auf „falsche Informationen“ des US-Geheimdienstes stützten.

5. Auch der Angriff auf das Dorf Korisa, bei dem am 14. Mai 87 Zivilisten (überwiegend albanische Flüchtlinge) getötet und 60 verwundet wurden, bewertet der Ausschuss als einen verzeihlichen Fehler der Nato. Nach eigenen Angaben hatte die Allianz Geheimdienstinformationen über ein jugoslawisches Militärcamp in Korisa. Dass diese falsch waren, hätten die Nato-Piloten bei dem in dunkler Nacht und wiederum aus großer Höhe vorgetragenen Angriff nicht erkennen können.

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