: Ausstieg aus Ausstieg ist Konsens
HEW, Grüne, Initiativen: Heftige Kritik im Norden am Berliner Atomkompromiss. Noch über 20 Jahre für Brokdorf ■ Von Sven-Michael Veit
Zufrieden ist so recht niemand, und einige sind sogar sauer: „Hier wurde auf lange Zeit der Frieden mit dem Atom gemacht“, so das vernichtende Urteil der grünen Parteichefin Antje Radcke über den Berliner Atomkonsens. Sie werde, kündigte die Hamburgerin an, dem Papier „nicht zustimmen“ und dies auch dem Bundesparteitag der Grünen am 23. Juni in Münster empfehlen. Radckes Hauptkritikpunkte sind, dass kein verbindliches Enddatum für die Stilllegung des letzten Atomreaktors festgelegt wurde und die durchschnittliche Laufzeit etwa 32 Jahre betragen soll. „Alles über 30 Jahre“, erinnert sie an die grüne Beschlusslage, sei „mit unserer politischen Glaubwürdigkeit unvereinbar“.
So sieht es auch Hamburgs grüner Umweltsenator Alexander Porschke. Das Ergebnis sei „schlechter“ als der Atomgesetzentwurf, auf den die rot-grüne Koalition im Bund sich bereits geeinigt hatte. Dieses sah 30 Jahre Laufzeit plus drei Jahre Übergangsfrist vor. Porschke forderte die grüne Bundestagsfraktion auf, dem Kompromiss im Bundestag nicht zuzustimmen, sofern die Industrie keine Zusagen mache über „Abschaltungen noch in dieser Legislaturperiode“, also bis September 2002.
Auch Manfred Timm ist alles andere als begeistert, obwohl im Norden für den Reaktor Brokdorf eine faktische Betriebszeit von mindes-tens 33,8 Jahren vorgesehen ist (siehe Tabelle). Er werde den „schmerzlichen“ Kompromiss prüfen und dann über eventuelle rechtliche Schritte befinden, kündigte der Chef der Hamburgischen Electricitäts-Werke (HEW) gestern an. Die Festschreibung von Reststrommengen für Reaktoren der HEW, obwohl diese in die „Geheimverhandlungen“ gar nicht einbezogen waren, seien „eine Vereinbarung zu Lasten Dritter, und das geht so nicht.“
Allerdings kann Timm, der nächsten Donnerstag auf der HEW-Hauptversammlung seinen Aktionären gegenübertreten muss, sich durchaus mit dem anfreunden, was er „Betriebs- und Planungssicherheit“ nennt. Nach der Berliner Vereinbarung können die HEW Stromkontingente von einem Atommeiler auf einen anderen übertragen. Eine vorzeitige Stilllegung der unrentablen Alt-Reaktoren Stade und Brunsbüttel auf die jüngeren und wirtschaftlicheren AKWs Krümmel und Brokdorf würde deren Laufzeit verlängern. Letzterer darf ohnehin noch gut 20 Jahre lang bis August 2020 strahlen; jedes Jahr weniger in Stade würde etwa sieben weitere Monate für Brokdorf bedeuten.
„Als Energiepolitiker muss ich das ablehnen“, sagt der GAL-Bürgerschaftsabgeordnete Axel Bühler. Er sehe zwar „das symbolische Signal“ des Konsenspapiers, vom „materiellen Gehalt aber sei er „sehr enttäuscht“.
„Dieser Ausstieg ist Etikettenschwindel“, konstatiert Regenbogen-Energieexperte Lutz Jobs. Eine durchschnittliche Gesamtlaufzeit von bis zu 35 Jahren sei nach seiner Rechnung möglich und damit „eine Bestandsgarantie über die rechnerische Lebenserwartung von Reaktoren hinaus“. Das sei gar kein Ausstieg, sondern ein „dramatisch gut abgesicherter Weiterbetrieb“, sagt auch Karsten Hinrichsen, Sprecher des Brokdorfer „Aktionskreises Stillegen Sofort“. Und für Wolfgang Ehmke von der BI Umweltschutz Lüchow-Dannenberg übertrifft die Vereinbarung „die schlimmsten Befürchtungen“.
Einer allerdings behauptete ges-tern, er sei mit dem Ergebnis zufrieden – Hamburgs Bürgermeister Ortwin Runde: „Das ist ein vernünftiger Kompromiss.“ Auf die Ansicht hat er alleiniges Copyright.
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