: Der Aufsteifungsrappel
Goldene Zeiten für Literatur (VIII): Über den fatalen deutschen Hang zur Erektionsprosa von Friedrich Schiller bis Maxim Biller
■ Abfall für alle? Die neue deutsche Literatur:Schnell geschrieben? Schnell gelesen? Schnellweggeworfen? Eine Artikelreihe über Popliteraten,Jungschriftsteller, Markterfolge und die Folgen
von STEPHAN WACKWITZ
„Ich frage mich wirklich“, sagte meine Freundin Justyna und wies uns mit nonchalanter Grazie die Fotografie eines Mannes mit Furcht erregend erigiertem Gemächt vor, der nackt auf einem Stuhl sitzt und stolz und ein bisschen bedeppert in die Kamera schaut. Sie hatte die Abbildung in einem Bildband über das Werk des Fotografen Peter Hujar erblättert, die mein Freund Adam während eines der hier üblichen, eigentümlich ziellosen gemeinsamen Abende in nicht ganz stilsicherer Weise auf dem Kaffeetisch seiner Krakauer Wohnküche hatte herumliegen lassen.
„Ich frage mich wirklich“, sagte Justyna, „ob das eigentlich wehtut. Darüber müsstet ihr beide mir doch eigentlich etwas sagen können.“ Ich weiß nicht mehr, was das zentrale Argument des kleinen Vortrags meines Freudes Adam war, der sich nun anschloss. Er wird wohl das eine oder andere Druckreif-Indignierte über Repräsentation, Abstraktion, gender und masculinity formuliert haben. Ein dreißigjähriger polnischer Kunstkritiker, der zwischen New York und Krakau hin- und herpendelt, hat’s eben auch nicht wirklich leicht.
Mich aber, den einzigen Feuilletonisten in der kleinen Runde, durchzuckte eine Epiphanie von der Art, wie sie uns Feuilletonisten gelegentlich durchzuckt. Ich wusste nämlich plötzlich, was das Gegenteil jener Schlappschwanz-Literatur ist, deren bundesrepublikanische Allgegenwart der deutsche Schriftsteller Maxim Biller, ein mir aus der Münchener Bar „Schumanns“ flüchtig bekannter Herr von eigentlich sehr zivilen Umgangsformen, letzthin – befremdlich missgelaunt polternd, kollernd und böllernd – öffentlich geißelte, anklagte und verfluchte.
Erektionsliteratur ist ein deutsches Phänomen. Ihre Wurzeln lassen sich bis in die Zeit um das Jahr 1770, in die literarische Überproduktionskrise des „Sturm und Drang“ zurückverfolgen. Theodor W. Adorno hat den erektionsliterarischen Aufsteifungsgestus, der eins der hartnäckigsten Übel unserer Literaturtradition darstellt, in seinen „Minima Moralia“ (merkwürdig, wie es sich wieder lohnt, in dieses fast vergessene Buch hineinzusehen) am originalgenialischen Gepolter und Geböller des jungen Friedrich Schiller studiert: „Der sprachliche Habitus Schillers gemahnt an den jungen Mann, der von unten kommt und, befangen, in guter Gesellschaft zu schreien anfängt, um sich vernehmlich zu machen: power und patzig. Die Tirade und Sentenz ist den Franzosen nachgeahmt, aber am Stammtisch eingeübt. In den unendlichen und unerbittlichen Forderungen spielt der Kleinbürger sich auf, der mit der Macht sich identifiziert, die er nicht hat, und durch Arroganz sie überbietet bis in den absoluten Geist und das absolute Grauen hinein.“
Erektionsliterarischer Sturm und Drang tritt vorwiegend anfallsweise auf (der sog. Aufsteifungsrappel). Dass er – wie jetzt – oft heitere, freundliche und intelligente Menschen befällt, von denen man sich im persönlichen Umgang nichts dergleichen versehen hätte, beweist, dass jene Anfallsneigung ein sozusagen überpersönliches Phänomen ist, etwas, das man vor einigen Jahren noch „Diskursstruktur“ genannt hätte. Nothing personal sozusagen. Es handelt sich vielmehr um eine in der deutschen Literatur bereitliegende Disposition, die sich offenbar vor allem während lebensgeschichtlicher Stresssituationen aktualisiert. Die gegenwärtige Überproduktionskrise auf dem Literaturmarkt bringt sie im Übermaß hervor. Dauernd debütiert wieder einer Aufsehen erregend. Alle haben sie jetzt plötzlich einen Agenten. Allerorten wird von exorbitanten Vorschusssummen gemunkelt. Man hat ewig nichts mehr über das eigene Werk in der Zeitung gelesen. Jünger wird man auch nicht. Und dann passiert es einem halt: „Ich nenne so was Schlappschwanz-Literatur. Es ist eine Literatur, an der man merkt, dass ihre Verfasser sich längst selbst aufgegeben haben, so wie sie überhaupt den Kampf gegen das Schlechte und für das Gute in unserer verschwiegenen Wohlstandsdiktatur aufgegeben haben, und so haben sie, bevor sie den ersten Satz aufgeschrieben haben, auch schon ihre Romanfiguren aufgegeben. So geistern durch unsere Gegenwartsliteratur Dutzende von Papierleichen, die nichts wollen, nichts hassen, nichts lieben; die nicht fallen können, nicht schreien, nicht töten. Ihre Handlungen können – im Sinn der aristotelischen Katharsis – niemanden schocken, mitreißen, aufwühlen, da fehlt eine metaphysische Hoffnung, das Leben möge vielleicht doch nicht ein einziger tiefer Fall in diesen beschissenen dunklen Abgrund unter uns sein.“
Selten hat man alle Aspekte des erektionsliterarischen Dispositivs so vollständig beieinander gehabt. Die Verwechslung von Literatur und Leben. Die Sehnsucht nach der existentiellen Ausgesetztheit im „beschissenen, dunklen Abgrund unter uns“ (als sei das Glück der Lektüre nicht vielmehr das Glück eines „Schiffbruchs mit Zuschauer“; als würden wir lesen, um zu leben, statt vielmehr in Wirklichkeit lesen, um das alles nicht erleben zu müssen). Der Anspruch des Dichters auf nationale Seelenführerschaft pro bono, contra malum. Das ewige Schreien, Wollen, Hassen, Lieben und angeblich sogar: Töten. Das Brustgetrommel des Kraftkerls. Das phallische und das koprophile Geböller. Und, als hätte Adorno Biller und nicht Schiller gelesen, ein paar Zeilen weiter dann tatsächlich die Überbietung all dieser albernen und fahrlässigen Imponiergebärden „in den absoluten Geist und das absolute Grauen hinein“. Billers Forderung nämlich nach „Härte: also die absolute Entschlossenheit, so brutal, dass das Blut spritzt, die letzten Fragen zu stellen“.
Wie gesagt: Es herrschen die Bedingungen einer akuten literarischen Überproduktionskrise. Wir sind alle ziemlich nervös. Man kann auch ein gewisses Verständnis für das – neuerdings freilich ein wenig überhand nehmende – Bedürfnis einiger Kollegen aufbringen, zum jeweiligen Buch immer die von ihnen selbst mustergültig verkörperte Generationsästhetik zu stipulieren. Aber es ist doch bemerkenswert, dass auch kluge Menschen in Deutschland, bevor sie öffentlich „so brutal, dass das Blut spritzt, die letzten Fragen“ stellen, nicht stattdessen tief durchatmen, sich ein bisschen zusammennehmen und vielleicht in die „Minima Moralia“ schauen. „Eine Generation macht sich lächerlich“ sagte eine befreundete ältere Dame, die zum Sarkasmus neigt, neulich am Telefon über die zunehmend verzweifelter anmutenden Erektions- und Distinktionskrämpfe der mittleren deutschen Schriftstellergeneration.
Dabei ist das Sich-lächerlich-Machen gar nicht unbedingt das interessante Problem. Es kommt vor und muss manchmal sogar sein. Das interessante Problem ist vielmehr das literaturgeschichtlich Wiedergängerhafte dieses aktuell letzten Blut-und-Letzte-Fragen-Rappels (um den es übrigens auch sehr schnell wieder sehr still geworden ist). Das interessante Problem ist die Tatsache, dass die deutsche Tradition, wenn man nicht ein bisschen selbstreflexive Distanz zu ihr hält, immer die vehementesten Pathosformeln und die peinlichsten Genieattitüden bereithält, dass man auf Deutsch unwillkürlich immer mit den dicksten Zaunpfählen herumwedelt, wenn man Gehör finden will, dass man nämlich auch von der Kritik allerorten ermuntert wird, die schwersten Zeichen aufzufahren und dass man die besten Distinktionsgewinne erzielt, indem man auf jeden Spatzen gleich die dicksten semantischen Granaten abschießt.
Denn kaum weniger peinlich als die Sturm-und-Drang-Aufsteifung ist – nur als Beispiel – die wiederum stark weimarhafte Spekulation mit dem klassizistischen Prunkzitat oder mit dem abwegig-erlesenen Entstehungsort („wadi takachori, 1. 12. 96“) in der zeitgenössischen Lyrik, die sich („Ihr dürft jetzt Gaius Valerius Catullus zu mir sagen“) mit solchen gipsernen Schwerzeichen immer mehr zur „Angeberlyrik“ (Michael Rutschky) emporgipfelt. Genuin peinlich ist das Gefuchtel mit dem Maßanzug und dem Dandystatus der Pop-Stefan-Georges und -Wolfkehls, die neulich ihre Viertelstunde Berühmtheit genossen haben. Und die tragische Tatsache, dass der wahrscheinlich wirklich große Schriftsteller Peter Handke (er trat im Princeton der Sechzigerjahre bereits mit einem enormen Schimpf- und Aufsteifungskoller ins Rampenlicht) sich neuerdings ohne Not politisch derart zum Heidegger macht, wurzelt so tief und so blöd in der deutschen Geistesgeschichte, dass man gar nicht weiter darüber nachdenken mag.
Vielleicht kann man das deutschistische Dispositiv des literarischen Aufsteifungsrappels am besten damit erklären, dass der deutsche Sturm und Drang seit 1770 bis heute nicht verstanden hat, wie kleine Literatur sich zu großer Literatur verhält. Die deutsche Literatur kommt mit der Dialektik zwischen minor poet und major writer nicht zurecht. Es gibt hierzulande keine positive und ehrenvolle Position für den poeta minor, obwohl die deutsche Gegenwartsliteratur eigentlich überhaupt nur von poetae minores verfasst wird und obwohl ein so ehrwürdiges Schriftstellerleben wie etwa das von Hermann Lenz einem zeigen könnte, dass man als minor poet ein großer Schriftsteller sein kann. Es gibt nicht einmal ein deutsches Wort: „Kleinmeister“ ist die Bezeichnung für eine klägliche und lächerliche Figur.
Das Rappelparadox des Sturm und Drang besteht aber darin, dass über die relative Größe von Literatur immer erst nach längeren Zeiträumen entschieden wird. Literatur kommt klein zur Welt. Und manchmal wächst sie dann, indem wir sie lesen und über sie nachdenken. It grows on us. Literaturtraditionen, die wie der ewige deutsche Sturm und Drang auf das Großdebüt orientiert sind, auf jenes erste Buch, das wie Goethes „Werther“ eine Epoche und eine Nationalliteratur definiert, geben ihren Büchern zu wenig Zeit, wirklich und mit Würde groß zu werden (oder in Gottes Namen halt klein zu bleiben). Stattdessen ermuntern sie jeden Schriftsteller von auch nur einigem Ehrgeiz zu jenen gorillahaft-leeren Imponierauftritten (das Maßanzug-Herzeigen; das Exhibieren der eigenen, ganz besonders dicken Moral; das Kollern gegen die „Beschreibungsimpotenz“; das Schimpfen mit den Schlappschwänzen).
Der große Kafka ist in den Zwanzigerjahren ein kleiner Schriftsteller gewesen. Man hat ihn zu Lebzeiten nur schwer von Robert Walser, Bruno Schulz oder vielleicht nicht einmal von Peter Altenberg unterscheiden können: von Autoren, die uns heute unvergleichlich viel kleiner erscheinen als er. Kafka hat nicht Aufsehen erregend debütiert. Er hatte keinen Agenten. Von exorbitanten Vorschusssummen war nicht die Rede. Man hat kaum je etwas über sein Werk in der Zeitung gelesen. Dass er groß wurde, ist nicht das Ergebnis eines strategisch richtig inszenierten Aufsteifungsrappels gewesen, sondern eher eine Art Zufall. Wir haben uns, während die Zeit verging, auf ihn einigen können.
Aber bevor ich selber noch anfange, für das literarische Kleinmeistertum die passende Generationsästhetik zu stipulieren, breche ich lieber ab. Diese Bemerkungen sind sowieso nur ein schriftlich verspäteter Beitrag zu einem jener eigentümlich ziellosen Abende voller Wodka, Freundschaft und Marlboro Lights in einer Krakauer Wohnküche. Ein deutsches Gegenstück zu einem kleinen, druckreif-indignierten polnischen Vortrag über Repräsentation, Abstraktion, gender und masculinity.
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