: Mit Eigendynamik zum Erfolg
Vor dem Europa der Visionen kommt das Europa der Mühen: Eine „verstärkte Zusammenarbeit“ von Kernländern soll andere mitziehen. Noch sind versäumte Hausaufgaben der letzten Gipfel abzuarbeiten
BRÜSSEL taz ■ Es gibt ein wundervolles Cartoon über die Kurzlebigkeit von Computersoftware. Der Verkäufer hält das Paket mit Windows 98 in die Höhe und fragt: Soll ich es einpacken oder gleich in den Müll werfen? Gestern hat Jaques Chirac im Deutschen Bundestag indirekt dieselbe Frage gestellt: Kann der Vertrag von Nizza die nötige EU-Reform bringen oder machen wir uns gleich an die Arbeit für die nächste Runde, den Vertrag von Brüssel (Ende 2001) oder Kopenhagen (Ende 2002)?
Am 1. Mai 1999 ist der Vertrag von Amsterdam in Kraft getreten. Schon als die Regierungschefs 1997 ihn paraphierten, war klar, dass seine Kernpunkte – die Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen in der EU und eine größere Mitbestimmung des Europäischen Parlaments bei einigen Politikbereichen wie dem Umweltschutz – den Bedingungen der Eurozone und der Erweiterung nur unzureichend gerecht würden. Die „Leftovers“, die unerledigten Hausaufgaben von Amsterdam, sollen jetzt im Dezember in Nizza erledigt werden. Von der vorbereitenden Regierungskonferenz erhoffte man sich ursprünglich eine Tagesordnung, die der Euroverdrossenheit entgegenwirken und eine gewachsene Gemeinschaft von mehr als zwanzig Mitgliedern funktionsfähig machen sollte.
Tatsächlich beschränkte sich das Expertengremium angesichts der unversöhnlichen Ausgangspositionen mehrerer Nationalstaaten rasch auf ein Minimalprogramm: Eine weitere Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen, damit nicht ein Land mit seinem Veto wichtige Beschlüsse blockieren kann. Eine Beschränkung der Zahl der Kommissare, damit nicht am Ende der nächsten Erweiterungsrunde 28 Kommissare mit undurchschaubaren Zuständigkeiten Brüssels Administration lahm legen. Und eine neue Verteilung der Stimmen im Ministerrat, um die entsprechende Stimmenzahl enger an die Einwohnerzahl des jeweiligen Landes zu koppeln.
Von Teilnehmern der Konferenz erfährt man, dass es bislang nicht einmal bei den „Leftovers“ Bewegung gibt. Gleichzeitig verstärkt die Diskrepanz zwischen visionären Fensterreden und kleinlichem Gefeilsche um nationalen Einfluss in den europäischen Gremien die Europa-Verdrossenheit der Wähler. Beim Gipfel von Feira vergangene Woche vereinbarten die Regierungschefs deshalb, „verstärkte Zusammenarbeit“ als viertes Element in den Vertrag von Nizza aufzunehmen.
Schon der Amsterdamer Vertrag erlaubt, dass einige Länder sich enger zusammenschließen als andere. Bislang allerdings mussten das auch diejenigen Mitgliedsstaaten einstimmig absegnen, die sich an dieser Zusammenarbeit gar nicht beteiligen wollen. In Zukunft soll die Mehrheit der Stimmen im Rat ausreichen, damit einige europäischer sein dürfen als andere.
Das Kalkül, mit dem vor allem französische und deutsche Politiker diese Idee ins Spiel bringen, ist klar: Wie beim Euro, so hoffen sie, wird auch in anderen Bereichen die engere Zusammenarbeit eine so starke Eigendynamik entwickeln, dass die anderen am Ende auch mitmachen wollen.
Sollte verstärkte Zusammenarbeit tatsächlich ein Element des Vertrages von Nizza werden, dann hätte diese Software ihr Deinstallationsprogramm schon eingebaut. Auf dem Cartoon könnte ein strahlender Jacques Chirac das Produkt einer langen Gipfelnacht in die Höhe halten und fragen: Leute, wollen wir das wirklich noch ratifizieren oder beauftragen wir gleich eine neue Regierungskonferenz damit, die Europäische Verfassung auszuarbeiten?
DANIELA WEINGÄRTNER
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