Ein Fall von Missbrauch?

■ Anna Maria Krassnigg hat in Bremerhaven Lessings „Nathan der Weise“ als Familiendrama inszeniert. Eine eher gewagte denn überzeugende Entscheidung

Ist Nathan im Jahr 2000 kein Weiser mehr? Darf er es nicht mehr sein, weil die großen Sätze zu abgehoben klingen und das Pathos der vernunftgeleiteten Liebe nicht mehr glaubwürdig ist? Die Gastregisseurin Anna Maria Krassnigg macht in der Arena des City-Port in Bremerhaven aus dem weisen einen gewitzten Mann und aus Lessings Vision der Menschheitsfamilie eine familientherapeutische Fallstudie.

Das Bild von Bert de Raeymaecker ist stark: Eine suggestiv ausgeleuchtete Bühne empfängt die BesucherInnen, eine kreisrunde Plattform mitten in der Halle, um einen ringförmigen Steg eine Art Bassin, der Sultanspalast von Jerusalem, von hier weisen lange Stege sternförmig in vier Himmelsrichtungen. In dieser Mitte wird sich am Ende die neu gefundene Familie versammeln, aber einen werden sie aus ihrer Mitte ausgeschlossen haben: den Juden Nathan.

Die junge Regisseurin kehrt den scharfsinnigen Aufklärer Lessing gegen den Strich. Sie interessiert sich wenig für seine ergreifenden Menschheitssätze wie „Sind Christ und Jude eher Christ und Jude als Mensch?“ Krassnigg will unter derart klugen Sätzen die Geschichte eines Mannes herausgraben, der eine Tochter großgezogen hat, ohne ihr zu sagen, dass er nicht ihr leiblicher Vater ist. Krassnigg sieht darin die Geschichte einer gefährlich symbiotischen Beziehung, in der Recha, das junge Mädchen, gefangen gehalten wird.

Monika Pallula gibt Recha die Züge einer infantilen Kindfrau, die nicht erwachsen werden kann. Sie springt nicht nur dem Vater, sondern jedem und jeder Fremden grenzenlos zutraulich um den Hals. Entsprechend setzt die Regisseurin den vermeintlichen Vater in Szene: Bernt Stichler spielt einen gebrochenen Mann, der seine Unsicherheit in fahrigen, nervösen Gesten auslebt und beim Sprechen den Faden verliert. Nathan ist einer, der nicht weiß, wer er ist. Das Einzige, was er genau weiß: Dass er nicht dazugehört, denn die Christen haben seine Frau und seine sieben Kinder ermordet. Ein Zufall legt ihm kurz danach die Tocher seines gefallenen Christen-Freundes in die Hände, die er zu seiner eigenen Tochter macht. Ein Fall von emotionalen Missbrauch?

Derart wird Lessings philosophisch-theologische Auseinandersetzung in Krassniggs Inszenierung auf das Maß einer problematischen Familiengeschichte zurückgeschraubt. Ein sehr enger Ansatz, der sich der Schönheit der Lessing'schen Sprache verweigert. Die Regisseurin könnte darauf verweisen, dass die große Idee des Stücks mit den Kostümen ins Spiel gebracht wird. Die Kostümbildnerin Eva Wandeler steckt alle SpielerInnen in schürzenartige Gewänder aus transparenten, farbigen Plastikscheiben. Diese kleinen Scheiben sind rot (für die Christen), grün (für die Mohamedaner) oder blau (der Jude). Im Lauf des dreistündigen Spiels werden die Kittel löchrig und verwandeln sich ansatzweise zu einem bunten Flickengemisch. Der pädagogische Zeigefinger dieser Verwandlung ist mindestens so durchsichtig wie die Plastikteile selber und die unförmigen Gewänder nerven irgendwann beträchtlich.

Krassnigg drückt Lessings Worte aus dem Zentrum an den Rand, und darin liegt das Dilemma der Inszenierung. Denn die DarstellerInnen haben auf der von vier Seiten umstellten offenen Plattform nichts als ihre Worte und Bewegungen: Die wechselnden Orte sind – überzeugend einfach – nur mit Lichtwechseln angedeutet. Jeder Szenenwechsel wird mit einer – von Wolf Butler eigens komponierten – wunderbar stimmigen Musik unterstrichen. Aber die Kraft dieser angerissenen Akkorde und Melodiefragmente ist in den Szenen nicht immer zu finden. Häufig ersetzen laute theatralische Posen die möglichen Empfindungen der Figuren, die auf diese Weise kalt bleiben. Hans Happel

Weitere Aufführungen: 29. Juni, 5 u. 7. Juli im City-Port Bremerhaven. Karten und Infos gibt es unter Tel.: 0471/49 001