: 100 Jahre Krieg
Claus Peymann inszeniert Shakespeares „Richard II.“ in der Übersetzung von Thomas Brasch. Am Berliner Ensemble wird aus dem angestrengten jungen König ein kalter Spieler und Machtmensch
von CHRISTIAN SEMLER
Können wir das heute begreifen? Ein Herrscher, der sich selbst demontiert? Der unfähig und unwillig zum politischen Kompromiss mit einem zeitweilig überlegenen Gegner lieber die Abdankung wählt, den vollständigen Machtverlust, schließlich den Tod aus der Hand eines willfähigen Mörders? Wer ist dieser Richard II. Shakespeares und warum hängen wir hingerissen an jedem seiner großen Monologe, die zwischen der Beschwörung absoluter Königsmacht, deren Strahlen alles durchdringt, und dem Nichts, der Bedeutungslosigkeit des nackten, machtlosen Individuums hin und her schwankt?
Wäre dieses Stück nur ein Traktat über die zwei Körper des Königs, den majestätisch-unsterblichen und den leiblich-irdischen, wir könnten es getrost den Anstrengungen philologischer Forschung überlassen. Was uns in seinen Bann zieht, ist die soziale Energie in den Beziehungen der Akteure. Es ist diese Energie, von der Stephen Greenblatt, der Erfinder des „New Historicism“, schrieb, sie gehe „mit wiederholbaren Formen von Vergnügen und Interesse einher, mit dem Vermögen, Unruhe, Schmerz, Angst, Herzklopfen, Mitleid, Gelächter, Spannung, Erleichterung, Staunen wachzurufen“.
In welchem Kraftfeld bewegt sich Richard II., gespielt von Michael Maertens, in der Inszenierung Claus Peymanns, die letzten Freitag am Berliner Ensemble Premiere hatte? Shakespeares Richard ist ein überaus sturer, ernsthafter, angestrengter, schon sehr früh zur Königswürde gelangter junger Mann, der sich fürs Königtum mit seiner ganzen Person verzehrt. Michael Maertens’ Richard hingegen ist von Anfang an ein ziemlich abgebrühter Spieler, ein Hofmann, vertraut mit allen Tricks des Machterhalts und der Machtvermehrung. Als er seinen künftigen Rivalen Henry Bolingbroke zeitweilig aus England verbannt, geschieht dies nicht um des inneren Friedens willen. Es ist ein egoistischer politischer Schachzug, wie auch die Beschlagnahme des Erbes Bolingbrokes, die zur vorzeitigen Rückkehr des Geschädigten aus dem Exil, zum Bürgerkrieg und zum Niedergang Richards führt.
All das ist glänzend eingefädelt und mit einem suggestiven Bild – der Billard spielenden Gefolgschaft des Königs im Fluchtpunkt der Guckkastenbühne – angereichert. Bleibt nur die Frage, warum dieser clevere König nach einer verlorenen Schlacht die ganze Partie verloren gibt. Sein Gegenspieler Henry Bolingbroke ist ein einfältiger, zögernder Ehrgeizling. Shakespeare hat ihn mit einem so schwachen Text versehen, dass auch Mimen eines ganz anderen Kalibers als Veit Schubert ihn nicht zur Größe erweckt hätten. Shakespeares Richard sieht das Königtum auf schiefer Ebene, sobald er in einem Punkt, der Rückgabe des Erbes Bolingbrokes, nachgibt. Maertens’ Richard hingegen würde seine Chancen kalkulieren. Wie seltsam hört sich aus Maertens’ Mund die Klage des gefangenen Richard an, jetzt wie der Zeiger einer Uhr auf die Mechanik der Zeit reduziert worden zu sein: „Ich hab die Zeit verbraucht und jetzt verbraucht sie mich.“ So agiert kein Machtmensch und kein Spieler in der Niederlage, sei es im Tower oder vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestages. Hier finden sich auch die Grenzen der ingeniösen Neuübersetzung von Thomas Brasch. Sie hat ihre stärksten Momente, wo es um kalte Zynismen, um Härte, um Abgebrühtheit geht. Angesichts des schrecklichen Lochs der Bedeutungslosigkeit, in die Richard fällt, bleibt sie blass.
Warum verteidigt Shakespeares Richard so verzweifelt das absolute Königtum? Nicht etwa im Zeichen eines untergehenden Ideals, sondern um der mühsam erkämpften und stets bedrohten Stabilität willen, für zu die Shakespeares Zeiten die „elizabethen world order“ stand. „Don’t you know. I am Richard II“, sagte Königin Elisabeth einem Höfling, als bekannt wurde, dass die Verschwörer um Lord Essex sich am Vorabend ihres Verrats mittels eines Besuchs von „King Richard II“ Mut gemacht hatten. Und dem Publikum des „Globe“ war nur zu gut im Gedächtnis, dass auf Richards Tod fast hundert Jahre Krieg und Bürgerkrieg folgten.
Von dieser Art von Angst (auch eine soziale Energie) ist in Peymanns Inszenierung wenig zu spüren. Fast unmerklich schiebt sich im zweiten Teil seines Unternehmens eine andere Geschichte in den Vordergrund: die von Verrat und Anpassung. Der Herzog von York, letzter überlebender der zahlreichen Onkels Richards, wechselt auf wahrhaft hündische Weise die Fronten und sucht sich dem neuen König Heinrich IV. dadurch anzudienen, dass er eine Verschwörung seines eigenen Sohnes Aumerle gegen die Krone aufdeckt. Schließlich rutschen in einem grotesken Slapstick York, Sohn Aumerle und die Herzogin von York, die zu diesem Behuf ihren Rollstuhl verlassen hat, auf den Knien vor Bolingbroke herum, um Gnade winselnd. Letzterer gibt sich staatsmännisch: Er verschont Aumerle, der gerade noch ein Graffiti „R. II forever“ an die Wand gemalt hatte, und vernichtet die Mitverschwörer. In dieser Groteske, geboren aus dem aktuellen Geist der Unterwerfung unter die stärkeren Westbataillone, hatte die Inszenierung ihren kräftigsten, bei der Premiere viel bejubelten Moment.
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