: Nur noch die Clowns für Karstadt
Die Stadtrauminszenierung „ZeitenWende“ machte am Wochenende in Gießen die Nacht zum Tag und die City zur Bühne. Hübsche Idee, wenig überraschendes Ergebnis: Wenn der Bürger spielen darf, spielt er am liebsten Konsumrausch. Bericht einer theaterwissenschaftlichen Butterfahrt
von ESTHER SLEVOGT
Theaterwissenschaftler leiden manchmal darunter, dass keiner etwas mit ihnen anfangen kann. An der Universität Gießen hat man deshalb schon vor Jahren das Institut für angewandte Theaterwissenschaft gegründet: Theaterwissenschaft anwenden! Einige Absolventen des Studiengangs sind mittlerweile Stars der deutschen Live-Art-Szene, Showcase Beat Le Mot etwa, Stefan Pucher und Gob Squad, die sich über die documenta x zum Deutschen Schauspielhaus spielten. Wie angewandte Theaterwissenschaft auch aussehen kann, demonstrierten am Wochenende Kerstin Evert und Oliver Behnecke. Ihr ehrgeiziges Projekt „ZeitenWende“ wollte gleich eine ganze Stadt inszenieren.
Der Gießener Bürgermeister war begeistert: „Stellen Sie sich vor, eine Stadt wird zur Bühne. Bürger und Besucher dieser Stadt spielen: Die Nacht wird zum Tag, der Tag wird zur Nacht.“ Ein sattes Kulturprogramm wird angekündigt. Offene Geschäfte von null bis fünf Uhr früh. Sogar die Behörden arbeiten – es können Ehen geschlossen und Pässe verlängert werden in dieser Nacht der Nächte, liest man und fährt also hin: nach Gießen, wo Sonntag, den 2. Juli 2000 um null Uhr MEZ die Uhren auf zwölf Uhr GIZ, also Gießen-Zeit, umgestellt werden sollen.
Aber dann war es, als hätte der Himmel gewusst, was kommen würde, und sein Bestes gegeben, es zu verhindern: strömender Regen, der aus Fußgängerzonen Flüsse und aus Stadtplätzen Sümpfe machte. Gähnende Leere auf den Straßen. Nur die Penner vor Karstadt in der Seltersgasse sind bester Laune. Es ist 19.15 Uhr. Gute drei Stunden später ist hier kein Durchkommen mehr. Statt des Regens strömen nun Menschenmassen. Kein Durchkommen auch zur Eröffnungsveranstaltung. Also kehrt gemacht zur Fachhochschule, wo eine Gruppe namens „Angora & Angina“ eine Performance im Fahrstuhl macht. Rauf und runter wird man da gefahren. Wenn sich die Türen öffnen, öffnen sich auch neue Welten: Videoprojektionen oder kurze Choreographien. Dann landet man auf einer künstlichen Wiese mit Häschenhockern und läuft durch die „Dark-Side-of-the-Moon-Bar“, wo nach Mitternacht in völliger Dunkelheit der „perfekte Service des Zentrums für blinde und sehbehinderte Studenten“ zu erleben sein soll. Aber um null Uhr wird im Standesamt erst mal Prinz Matthes der I. von Oberhessen getraut. Der Bräutigam ist Bildhauer und offensichtlich ein stadtbekanntes Original. Man empfängt ihn mit erhobenen Schwertern.
Inzwischen ist es 0.30 Uhr und der Verkehr in Gießen ist zusammengebrochen. Ein Konzert aus Hupen und Martinshörnern begleitet einen Richtung Seltersgasse, wo man aufs Parkdeck von Karstadt will, um die Theatergruppe „Drei Wolken“ zu sehen. Aus einer von der Telekom gesponserten Telefonzelle kann man unterwegs direkt in die Südsee telefonieren und mit dorthin gereisten Theaterwissenschaftlern diskutieren.
In Gießen sind seit null Uhr MEZ die Geschäfte geöffnet, und da zeigt die inszenierte Stadt ihr wahres Gesicht: An Kunst denkt hier kein Mensch. Jetzt werden die Läden gestürmt. Die Eingänge von Karstadt sind verstopft. „Pro Sieben“-Moderator Andreas Türck wollte sein Buch „facts und feelings“ signieren, doch die rasende Masse brachte schon im Vorfeld die Champagnerbar zum Einsturz. Auch durch den Notausgang strömen Kaufwütige ins Haus, Regale werden durchwühlt, Kartons aufgerissen. Nach einer Stunde sieht das Erdgeschoss von Karstadt aus wie der Berliner Tiergarten nach der Love Parade.
Menschenmassen wälzen sich durch Gießens Fußgängerzone. Leise und im Angesicht des Chaos unendlich naiv wirkende Theaterveranstaltungen wie „Das Feld der Verklärung“ von She She Pop werden von Grölern gestört. Die „Drei Wolken“ auf Parkdeck 14 verzichten frustriert auf die geplante Wiederholungsvorstellung um 4.30 Uhr MEZ. Bei der ersten waren die Leute einfach über die Bühne gestürmt, Requisiten wurden gestohlen, und zugehört hat sowieso kein Mensch.
Ist das also die Zukunft der Kunst? fragt man sich einigermaßen irritiert und sieht einem alten Loriot-Sketch über zwei Ehepaare beim Bettenkauf zu, der vom „mobilen Kino“ an eine Hauswand projiziert wird und der von der aktuellen Karstadt-Wirklichkeit dieser Nacht längst eingeholt worden ist. Namen wie Heiner Goebbels, der eine Klangrauminstallation einrichtete und der auch auf der Liste der Projektlenker der „ZeitenWende“ stand, garnieren eine reine Konsumveranstaltung, wie einst Rex Gildo Butterfahrten nach Helgoland. Sind Künstler, die ihre Ausnahmestellung in der Gesellschaft immer noch mit Utopiebewahrung rechtfertigen, bloß noch die Clowns für Karstadt? Alibi für das Kippen des Ladenschlussgesetzes?
„Guten Abend, meine Damen und Herren“, begrüßte der Gießener Theaterintendant Guy Montavon am späten Sonntagvormittag eine knappe Hundertschaft Kulturbeflissener zum Abschlusskonzert im Theaterpark, während die übrige Stadt ihren Kaufrausch ausschlief und in den Fußgängerzonen schon die Räumfahrzeuge der Stadtreinigung dröhnten. Hilfe, wir verblöden! hätte man ihm zurufen wollen. Und die, die uns davor beschützen sollten, spielen stattdessen Mozarts „Kleine Nachtmusik“ dazu.
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