„Säuberungen“ in Tschetschenien

Nach den antirussischen Anschlägen riegelt die Armee die Kaukasusrepublik ab und verhängt eine Ausgangssperre. In den unabhängigen Medien werden unbequeme Fragen gestellt. Chancen für Friedensverhandlungen gibt es nicht

aus Moskau BARBARA KERNECK

Nach der Serie von schweren Anschlägen auf Gebäude der föderalen Streitkräfte in der Nacht vom Sonntag auf Montag hat sich die Situation in Tschetschenien gestern merklich zugespitzt. Das Fernsehen zeigte, wie in der Stadt Argun föderale Soldaten einzelne Tschetschenen nacheinander mit auf dem Rücken gefesselten Händen durch die Gegend trieben. Solche Aktionen, so genannte „Säuberungen“, liefern gestern in mehreren Orten gleichzeitig ab. Die abtrünnige Republik wurde abgeriegelt. Außerdem gilt wieder eine nächtliche Ausgangssperre.

In Argun war es am Montag früh um 4.50 Uhr zum folgenreichsten der Anschläge gekommen. Ein mit Sprengstoff vollgepfropfter Lkw der Marke Ural explodierte vor einem Wohnheim des Innenministeriums. Weitere Anschläge wurden in Gudermes, Urus-Martan und in dem Dorf Nowogrosnensk ausgeführt. Regierungssprecher Jastrzembski nannte gestern die ersten offiziellen Zahlen: Demnach wurden insgesamt 33 Menschen getötet, 84 verletzt und drei sind verschollen.

Inzwischen werden in der russischen Öffentlichkeit Fragen gestellt. „Wie der ‚Ural‘ neben das Wohnheim gelangen konnte, ist nicht ganz zu begreifen“, schreibt die Tageszeitung Moskowski Komsomoljez. „Wenn man in Betracht zieht, dass die Explosion um 4.50 Uhr erfolgte, also im Dämmerlicht, dann ist überhaupt unverständlich, wie der Lastwagen so nahe an ein bewachtes Objekt heranfahren konnte. Und schließlich besitzen die Tschetschenen praktisch keine Lastwagen dieser Marke mehr – die stehen bei den bewaffneten föderalen Streitkräften.“ Die universelle Antwort auf diese Frage lautet: Die russischen Wachtposten in Tschetschenien sind so undiszipliniert und korrupt, dass sie keine Gewalttat verhindern können. Darauf spielte sogar Moskaus Oberfalke und Oberkommandeur im Berg- und Zwergstaat an, General Gennadi Troschew. Er berichtete, er habe „aufgrund gewisser Informationen“ die Militärs gebeten, „wachsam zu sein“. Weiter sagte Troschew: „Die meisten Kommandeure erfüllen diese Anforderung, aber unglücklicherweise hat das nicht immer geklappt, zum Beispiel nicht bei der provisorischen Einheit des Innenministeriums in Argun.“

Geradezu begeistert griff derselbe Oberkommandeur den über die Nachrichtenagentur Interfax verbreiteten Video-Auftritt des gewählten tschetschenischen Präsidenten Aslan Maskhadow auf. Der erklärte: „Die Guerillataktiken der Rebellen lassen den Russen keine Chance, ihre Kontrolle über Tschetschenien zu festigen.“ Für General Troschew ist dies eine weitere Bestätigung, dass man mit dem „Banditen“ Maskhadow auf keinen Fall verhandeln darf.

Anders sehen dies die demokratischen russischen Massenmedien. Sie sind sich einig in der Schlussfolgerung aus dem Geschehen: Keiner der von Moskau ernannten Statthalter in Tschetschenien wird je ernsthafte Erfolge erzielen, solange er keinen Einfluss auf die bewaffneten Formationen ausübt. Maskhadow selbst hat sich durch sein quasi-Bekenntnis zu den Tätern allerdings wirklich von Verhandlungen entfernt. Denn – so meint Alexander Malaschenko vom Moskauer Carnegie-Zentrum: „Friedensverhandlungen nach diesen Anschlägen kämen für die Russen einem Eingeständnis ihrer Niederlage gleich.“