: Der Musiker als Handwerker
Früher beklagte er, dass es kein Bier auf Hawaii gäbe, und brachte sein Publikum zum Schmunzeln. Mittlerweile hat sich Paul Kuhn, der Mann am Klavier, als Jazzpianist neu erfunden. Jetzt ist er mit seinem Trio auf Tour, und die Musik macht ihm Freudevon THOMAS WINKLER
Es war einmal ein Mann, den alle Welt „Paulchen“ nannte. Ein Mann, auf dessen Handzeichen hin viele andere Männer wie aus einem Guss Musik erklingen ließen, die Steine und Rentnerinnen zum Schmelzen brachte. Ein Mann, der in einem Schlager beklagte, dass es kein Bier auf Hawaii gäbe. Einer, der die ganze Bundesrepublik zum Lächeln brachte. Später überführte ihn diese Bundesrepublik, mehr als eine Million Mark hinterzogen zu haben, und hätte ihn dafür beinahe ins Gefängnis gesteckt.
Lang, lang ist es her, aber all die Jahre trug Paul Kuhn mit stoischer Ruhe sein Knautschgesicht spazieren, das schon vor Jahrzehnten seinesgleichen suchte. Mittlerweile sind die Augenringe auf Mundhöhe angekommen, und wenn sich der Zigarettenqualm verzieht, kann man sehen, dass der Rest des Gesichts vor allem aus Falten besteht, aus tiefen, furchigen Falten. Es ist ein gewaltiges Gesicht. Kein schönes Gesicht, aber eines, in dem sich Alter und Erfahrung seines Besitzers verdientermaßen spiegeln.
Dieses Jahr ist Paul Kuhn 72 Jahre alt geworden. Trotzdem nennt ihn manchmal noch jemand Paulchen. „Es gibt Schlimmeres“, sagt er dazu und lächelt milde wie jemand, der im hohen Alter endlich dort angekommen ist, wo er immer hinwollte. Nach nahezu einem halben Jahrzehnt als Schlagerstar, Fernsehclown und Orchesterleiter darf Kuhn mit seinem Jazztrio endlich wieder erfolgreich die Musik spielen, mit der er in den GI-Clubs der amerikanischen Besatzungszone begann. „Am Ende meines Leben spiele ich wieder das, was ich am Anfang meines Lebens gespielt habe“, sagt er, „das ist schön, dass sich dieser Kreis schließt. Davon habe ich geträumt.“ Dabei raucht er, als wollte er im Alleingang die Atmosphäre eines Jazzkellers rekonstruieren.
Der Jazz ist seine Leidenschaft, aber selbst das würde er niemals so sagen. „Es macht mir Freude“, sagt er. Dieser Satz mag nicht viel sagen, über Kuhn sagt er eine Menge. Er ist ein Mann der milden Töne, man könnte auch sagen, er ist leidenschaftslos. So wie sein Klavierspiel perlt, tröpfeln auch die Worte daher. Fast belanglos, wie nebenbei. Sein Jazz klingt so, als müsste er ihn nicht unbedingt spielen. Deshalb wohl klingt er so gut. Jazz war all die Jahrzehnte nie ganz aus seiner Karriere verschwunden, aber er lief nur nebenher. In ziemlich genau dem Tonfall, in dem man über seine Katze sprechen würde, sagt er über den Jazz: „Ich habe ihn vernachlässigt.“
Vernachlässigt zugunsten des einträglicheren Geschäfts. Noch heute weiß Kuhn zu berichten, dass „Der Mann am Klavier“, damals in den Fünfzigerjahren, volle 28 Wochen in den Hitparaden blieb. Auch wenn er für die breite Öffentlichkeit mit „Es gibt kein Bier auf Hawaii“ endgültig zum Schlagerstar wurde, war sein hauptsächlicher Broterwerb eher die Tätigkeit als Big-Band-Leiter, Arrangeur und Produzent, Talenteentdecker und -förderer. Bei so viel Präsenz waren Aufträge für die erfolgreichen Musikfilme der Nachkriegszeit unvermeidlich, Rollen in ihnen die logische Folge. Kuhn schrieb sogar ein Musical, auch wenn er heute nicht gern darüber redet. Und im neuen Medium Fernsehen platzierte man ihn neben die Showtreppe vor das Orchester, wo er im Takt mit dem Finger schnippte, dass der Sound nur so perlte. Und weil er da war, spielte er gleich ein paar Sketche mit Günter Pfitzmann oder Peter Frankenfeld.
„Ich bin keiner von denen“, sagt Kuhn noch heute, „die sagen, nur ein hungriger Jazzmusiker ist ein guter Jazzmusiker.“ So verselbstständigte sich die Karriere. Die Platten, die er machte, hatten mit dem Jazz, wie er ihn liebte, nicht viel zu tun, aber sie ernährten ihren Mann. Dafür trugen sie Titel wie „Tanz mit Paul Kuhn“ oder „Gestatten, alte Platten“. Viel sagende Titel. „Durch diese Musik, die mit dem Namen Paulchen verbunden ist, bin ich populär geworden“, sagt er heute. Kuhn ist ein viel zu höflicher Mensch, um zu sagen, er hätte gehasst, was er damals gemacht hat. Lieber sagt er: „Da muss man froh sein, dass man das geschafft hat.“
Er hatte es geschafft. Kaum eine Samstagabendshow wollte auf den netten, niedlichen Herrn verzichten, der in natura noch kleiner wirkt als auf dem Bildschirm. Er war ein Star in Omas Kino und im Pantoffelkino der Enkel. Zu den Mythen der bundesdeutschen Unterhaltungsindustrie gehört auch das gute Verhältnis zu Filmpartner Harald Juhnke. Die „dicke Freundschaft“, so sagt Kuhn heute allerdings, hätten ihnen die Medien nur „angedichtet“.
Ende der Siebzigerjahre und spätestens im Laufe der Achtziger, mit dem Aufkommen des Privatfernsehens und der Diskothekenkultur, wurde Livemusik zu teuer. „Es gibt nicht mehr viele Orchester, die einen anrufen“, klagt Kuhn, „und ein paar Arrangements brauchen.“ Seinen Job als Leiter der legendären SFB-Big-Band verlor er, und das Fernsehen rief auch nicht mehr an. 1980 verließ er frustriert Berlin. Zwölf lange Jahre hatte er hier gelebt. So lange, dass er längst zum Westberliner Inventar gehörte. Doch der endgültige Karrieretiefpunkt kam 1994. Steuerhinterziehung und Scheidung wurden in der Boulevardpresse breitgetreten. Danach, und das ist womöglich die größte Lebensleistung von Kuhn, hat er nicht lamentiert und immer wieder die guten alten Zeiten beschworen, so wie es viele andere vergessene TV-Stars gern tun. Er hat sich selbst neu erfunden, indem er zu seinen Wurzeln zurückgekehrt ist. „Ich kann mich nicht beklagen“, sagt er heute.
All die Jahre hatte er immer ein wenig deplatziert gewirkt zwischen den Reichen und Schönen. Vielleicht weil ihm anzusehen war, dass diese Musik nicht unbedingt die seine war, vielleicht wegen der latent renitenten Ausstrahlung eines Berliner Taxifahrers, die er heute noch manchmal hat. Immer habe er sich eher hineingeworfen gefühlt in die Karriere, als dass er sie selbst bestimmt hätte, sagt er inzwischen. Jetzt ist er vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben ganz bei sich. „Ich habe gemerkt“, sagt er, „wie sich im Leben doch noch alles fügt.“ Die Gründe dafür, glaubt er, sind eher profaner Natur: „Das ist Angebot und Nachfrage. Heute können wir uns vom Jazz ernähren, das konnte ich vor fünf Jahren noch nicht.“
Trotz dieser defätistischen Herangehensweise erfährt Kuhn in den letzten Jahren eine unerwartete Rehabilitation. Nachwuchsentertainer wie Götz Alsmann haben ihn als Vorläufer und Vorbild entdeckt. Und sogar die selbstverliebte Jazzszene, die anfangs noch die Nase rümpfte, hat ihn mittlerweile voll akzeptiert, auch wenn seine vorsichtigen Umsetzungen alter Jazzstandards mehr mit Easy Listening zu tun haben als mit modernem Jazz. „Die Frage ist doch: Macht man es für sich und setzt sich in den berühmten Elfenbeinturm, oder macht man es für die Leute“, sagt Kuhn, und es ist klar, wie er diese Frage beantwortet. Eigentlich nennt er das, war er da mit dem Bassisten Paul G. Ulrich und dem Schlagzeuger Willy Ketzer spielt, nicht mal gern Jazz: „Ich vermeide es oft, weil sich viele unter Jazz Miles Davis mit dem Rücken zum Publikum vorstellen.“ Lieber spricht er von „swingender Musik. Eigentlich ist das gehobene Unterhaltung, was wir machen.“
Selbst wenn Kuhn doch einmal von sich als „Künstler“ spricht – es ist die Bescheidenheit des Handwerkers, die ihn beherrscht. „Wenn Schlager handwerklich gut gemacht ist“, sagt er, „dann macht das auch Spaß.“ Oder: „Ich habe die Musik Gott sei Dank von der Pike auf gelernt, ich kann das alles machen.“ Eine nahezu preußische Einstellung: der Musiker als erster Diener seines Publikums.
Deshalb ist aus ihm nie ein wirklich großer Star geworden. Weil Allüren und Eskapaden ihm immer fremd waren, weil ihm das Glamouröse fehlte, weil er überzeugt Handwerker war und ist. So spielt er also nonchalant und eher unaufgeregt Gassenhauer wie „As Time Goes By“ und „Fly Me To The Moon“, Klassiker wie Cole Porters „Night and Day“ und „Oh Lady Be Good“ von den Gerhswins ebenso wie Charlie Parkers „Ornithology“ oder Filmmusiken von Henri Mancini. Er selbst nennt das „die Klassik der Unterhaltungsmusik“, und diesen Klassikern würde er um keinen Preis zu nahe treten wollen.
Alles an Kuhn ist auf eine sehr sympathische Art altmodisch: sein Anzug und die sorgsam geknotete Krawatte, seine unerschütterliche Höflichkeit und dass er trotz seines Alters nicht mit dem Rauchen aufgehört hat. Ein Comeback, wie es beispielsweise James Last feierte, hat Kuhn nicht nötig. Er braucht nicht mehr, als „mit zwei, drei Leuten zu spielen, die ähnlich empfinden“.
Wenn Kuhn heute dann doch mal wieder im Fernsehen auftaucht, dann entweder in einer Dokumentation über Barpianisten oder bei der Verleihung einer Goldenen Kamera oder eines Bambis. Dort gibt er dann, so sagt er, „das Gesamtkunstwerk Kuhn“ und schickt sofort hinterher, diese Formulierung „bitte nicht ernst zu nehmen“.
Er ist „Der Mann am Klavier“, auch wenn er den Song nicht mehr spielt, so wie auch die anderen Schlager aus der ferneren Vergangenheit nicht. Der Titel immerhin könnte kaum treffender sein. „Ich will diesen Beruf weitermachen, denn Sie kennen ja das alte Problem“, erzählt er; „wenn die Leute in Rente gehen, sterben sie zwei Jahre später, weil sie nichts mehr zu tun haben.“
THOMAS WINKLER, 34, ist freier Musikjournalist und lebt in Oranienburg
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