: Keine Klagen? Von wegen!
„Ob Kind oder Porsche – beide verbrauchen Energie.“ Wie sich die achtköpfige Familie von Kitzing gegen die Ökosteuer auflehnt
aus Emmertsgrund THOMAS GERLACH
Querulanten? „Na wenn schon?! Wenn etwas ungerecht ist, dann muss man es auch sagen dürfen!“ Sabine von Kitzing hat keine Angst vor diesem Stempel. Schlank, enge Jeans, kurze Haare, sechs Kinder geboren, kein Anflug von Müdigkeit. Sollen doch die Leute denken, was sie wollen! Und was denken die nicht alles: Die kriegen doch schon genug Kindergeld, haben die das nicht erhöht?! Stellen Sie sich mal vor, Kohl wäre Kanzler geblieben? Hätten doch besser aufpassen können! Nach dem Zweiten hätt ich mich sterilisieren lassen, sagt einer. Für manchen ist Kinderwunsch eine Krankheit – wenn es mehr als zwei sind.
Kinderreiche sind eine Randgruppe
Sabine von Kitzing hat sich gesetzt, bohrt ein Messer ins Brötchen. Halb zehn, die Küche ist leer, die Großen sind in der Schule, das Jüngste schläft noch. Kaffeepause. „Früher gab’s bei den Grünen noch familienpolitische Kongresse!“ Sabine von Kitzing lacht kurz auf. Bei den Versammlungen krabbelten damals Säuglinge wie Ameisen übers Parkett, Delegierte mit langen Haaren und Bärten saßen in den Reihen und strickten Pullis, weit wie Säcke. Die Kinder sind groß, die Bärte kurz. Und die Anzüge sitzen. Kitzings haben 20 Jahre lang Grün gewählt. Und nun das! „Die Öko-Steuer tut allein Stehenden kaum weh!“ Wer solo ist und arbeitet, kompensiert seine höheren Energieausgaben über die geringeren Rentenbeiträge. Kinder haben kein Einkommen und können nichts kompensieren. Sabine von Kitzing ist aufgestanden. „Ob Kind oder Porsche, beide verbrauchen Energie. Die Ökosteuer unterscheidet nicht.“ Beides ist Luxus, aber Kinder bedeuten Verzicht. „Da gibt es nun Singles und Yuppies, Schwule und Lesben, Geschiedene und Wiederverheiratete – aber wer hat denn noch eine Familie mit Kindern?“
Sabine von Kitzing gehört zu einer Randgruppe. „Als ich neulich den Familienpass beantragte, fragten die mich, ob ich Deutsche bin!“ Über 25 Millionen Ein- und Zwei-Personen-Haushalte stehen in Deutschland gut 1,6 Millionen Haushalten mit fünf und mehr Personen gegenüber. „Keine Frage, jeder soll so leben, wie er es für richtig hält. Es geht doch nur darum, dass alle halbwegs gleiche Bedingungen haben!“ Sie steht beim Herd, deutet mit dem Brötchenmesser Himmelsrichtungen an: „In Ludwigshafen eine Familie mit sechs Kindern . . .“ Kurzes Nachdenken: „In Mannheim auch sechs . . . in Göttingen sieben. In Speyer eine Frau mit sieben!“ Sabine von Kitzing bohrt nach. Mit ihren sechs eigenen 32 Kinder in fünf Familien. Die Familie aus Heidelberg-Emmertsgrund ist nicht allein, doch nur sie rebelliert. Und die Mutter führt sie an, gegen Öko- und andere Verbrauchssteuern. Sie treffen Arm und Reich, unabhängig von der Leistungsfähigkeit. Großfamilien verbrauchen viel, erwirtschaften jedoch wenig. Schon Theo Waigels Mehrwertsteuererhöhung vor zwei Jahren war ungerecht. Die Mehreinnahmen fließen seitdem in die Rentenkasse. Acht Verbraucher, acht Mäuler, achtfache Belastung. „Die Schwarzen haben schon die Familien bestraft. Und jetzt kommen die Grünen mit der Ökosteuer und setzen noch eins drauf!“
Die Rechnung ist so einfach, so billig, so klar. Sabine von Kitzing singt ihr Lied, in der Hand das Brötchenmesser. Fakten, Argumente, Zahlen, alles kann sie auswendig. Immer und immer wieder wälzt sie Tatsachen, nennt Namen, Jahreszahlen, sie könnte sämtliche Wäschekörbe damit füllen, die in der Küche, auf Balkon und Flur herumstehen. Wenn sie nicht schon so randvoll wären mit Kartoffeln und Möhren, Butter und Wäsche, Holz, Nudeln, Marmelade, Saft und Brot. Sabine von Kitzing ist keine Glucke, sie gleicht der Schwalbe, die unentwegt ihr Lied zwitschert, bis es alle hören. Auch die, die nicht wollen. Unrecht heißt die Melodie. „Die Grünen haben irgendwann vergessen, dass es ohne Kinder auch keine Zukunft mehr gibt.“
Die Frau lässt nicht locker. Auf dem Emmertsgrund hoch über dem Neckar hält eine Mutter Gericht über die Grünen. Und der Daumen geht nach unten. Von hier kann man bis nach Biblis schauen. Wenn dieses Atomkraftwerk stillgelegt sein wird, könnten dort Greise stolz spazieren gehen. An Nachwuchs haben die nicht gedacht. „Meine Kinder werden deren Rente zahlen.“ Es scheint, als tue ihr das jetzt schon Leid. Sie selbst hat kaum eigene Rentenansprüche. So gesehen wirkt die sechsfache Mutter noch ganz ruhig.
Die fünfjährige Arianne ist aufgewacht und in die Küche gestolpert. Beide Hände hat sie angelegt, ganz vorsichtig flüstert sie der Mutter Worte ins Ohr. „Was willst du? Warmen Multivitaminsaft?“ Schon plätschert der kalte ins Glas. Extrawürste sind selten bei den Kitzings. Nun will die Jüngste Memory spielen. Dieser Wunsch geht durch. Im Wohnzimmer hat sie die Karten ausgebreitet. Ihre Mutter kommt mit einem Ordner. Andere Kinderreiche haben den Kitzings lange Briefe geschrieben, korrekt mit Computer die einen, kaum leserlich andere. Keine Zeit für Formalitäten, die Entrüstung ist groß. „Endlich!“, seufzt eine Mutter, „Ich würde mich Ihrer Klage gern anschließen.“ Ein Vater ist nachdenklich: „Die meiste Wut spielt sich im Innern der Seele ab und das macht zunehmend krank“, beichtet er der Klägerin aus Heidelberg. Blonde Haare, helle Jeans – für manchen ist Sabine von Kitzing eine Lichtgestalt, für andere einfach krank. „Die Politik der Regierung Schröder müssen Sie als Paket begreifen“, wettert ein Sozialdemokrat. „Sie müssen Ihren Kindern von der Staatsknete nicht auch noch teure Pullis kaufen, wie sie in der Zeitung zu besichtigen waren“, eifert der Vater von drei Kindern und empfiehlt Bescheidenheit, wie man sie bei seinen Kindern besichtigen könne. Unterschrift „Morbus Cron“. Kein Name, eine Darmentzündung, unheilbar. „Eine schlimme Sache“, weiß die Krankenschwester, „und den Pulli hab ich vom Flohmarkt.“ Natürlich korrespondiert sie auch mit der hiesigen grünen Bundestagsabgeordneten. Die schrieb der renitenten Mutter einen Offenen Brief und beteuerte, die Ökosteuer sei ein Schritt hin zu einem gerechteren Steuersystem. Von wegen! Eine Strafsteuer sei das für alle, die nicht in die Rentenkasse einzahlen. „Die sagen mir, ich soll eine Lobby bilden! Wann denn?“ An dem Antwortschreiben hat sie einen ganzen Tag gesessen. Familie und Politik passen kaum zusammen. Arianne fummelt an ihren Haarspangen, redet mit den Kärtchen – Langeweile. Sabine von Kitzing hat alle Briefe und Zettel im Wohnzimmer ausgebreitet. Es ist ihr Memory, das sie jetzt spielt. Sie kennt jedes Blatt, jede Zahl. „60 Prozent des Gesamtvermögens liegt in den Händen von Pensionären, aber über eine Million Kinder leben von Sozialhilfe. 30 Prozent des Wahlvolks sind Rentner.“ Friedlich liegen die Argumente auf der Glasplatte. Der Verteilungskampf findet hier in aller Stille statt. Kämen sich die Absender so nah wie das Papier, die Fetzen würden fliegen. „Na endlich!“ Arianne hat schon längst zu spielen angefangen, da zückt ihre Mutter die erste Karte.
Klavierstunden? Judo? Das ist vorbei
Morgens um neun radelt Eberhard von Kitzing zur Stadt hinunter, abends um acht ist er wieder zurück, wenn der Physiker nicht zu Kongressen reist. Neulich war er in den USA. 5.615 Mark und 4 Pfennig netto brachte er vor genau einem Jahr als Gehalt mit nach Hause. Die Abrechnung vom April 99 ist an der Verfassungsbeschwerde angeheftet. In diesem Monat dürften es schon wieder ein paar Mark mehr sein. Der Physiker beim Max-Planck-Institut verdient weiß Gott nicht wenig. Trotzdem: Obwohl es in den vergangenen Jahren immer gestiegen ist, bleibt in der Haushaltskasse das Geld knapp. Zusammen mit dem Kindergeld liegen rund 7.500 Mark monatlich drin. Sie sind nicht arm dran, doch auf den grünen Zweig kommen die Kitzings auch nicht. Judostunden für Fabian? Klavierunterricht für Nora? Das ist vorbei. Die Begeisterung für eigene Kinder könnte sich bei ihnen später in Grenzen halten. Sabine von Kitzing räumt einen Wäschekorb aus, den sie aus dem Auto gezerrt hat. Wie ein Marktweib steht sie vor dem Haus, eine Avocado in der Rechten, eine Mango in der Linken. Die Empörung lässt sie schon wieder singen, diesmal die Strophe Ehekrach. „Du verdienst zu wenig! – Nein, du gibst zu viel aus! Das kennt doch jeder!“ Szenen am Morgen, am Mittag, im Bett. „Glauben Sie, dass es viele Eltern sind, die zwischen ihren Streitigkeiten und den Steuern einen Zusammenhang sehen?“ Armut ist Privatsache.
„Ich hätte es am liebsten, wenn die Korrektur von Rot-Grün käme. Das wäre doch zu blamabel, wenn es Karlsruhe tut?“ Die Juristen, die sie unterstützen, geben der Klage gute Chancen, aber noch ist nicht klar, ob die Richter die Beschwerde überhaupt annehmen. „Arianne, willst du mit?“ Der Ruf wird erhört. Kind nach hinten, Tür zu, Gang rein, hinunter zur Stadt. 13 Liter Benzin schluckt der Wagen, Stadtverkehr und Berge machen durstig. Das wissen nun auch die Richter in Karlsruhe. In der Beschwerdeschrift ist alles aufgelistet. Für ein sparsames Auto fehlt das Geld.
Am Abend sind endlich alle beisammen. Die Wäschkörbe sind umgepackt. Raclette wird es geben. 138 Mark hat Sabine von Kitzing bei Aldi gelassen, nicht schlimm. Viel schlimmer: Sie ist bei Rot über eine Ampel gefahren. Das kostet. Dazu vier Wochen Fahrverbot. Ratlosigkeit. Doch kein Zweifel, nach Karlsruhe würde sie zu Fuß gehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen