: Bloß nicht nervös werden
Bei der Internetfirma Ricardo.de sind die Angestellten gleichzeitig Aktionäre. Mit den fallenden Kursen sinkt auch ihr Lohn
aus Hamburg HANNES KOCH
Stefan Glänzer kann sich fast alles kaufen. Irgendwann. Vielleicht. Vor gut zwei Jahren gründete er zusammen mit zwei ehemaligen Studienfreunden die Internetfirma Ricardo.de. Jetzt sind die Aktien, die der 38-Jährige an seinem Betrieb hält, knapp 100 Millionen Mark wert. 200 Einfamilienhäuser für 500.000 Mark – eine ganze Siedlung.
„Okay“, sagt der hoch gewachsene, etwas jungenhafte Internet-Chef, dem das edle blau-weiße Hemd seitlich ein wenig aus der Hose hängt, „okay, als Student konnte ich mir vorstellen, eine Zeit hart zu arbeiten, um nicht mehr arbeiten zu müssen.“ Doch Ricardo-Aktien habe er noch niemals verkauft. Das wäre kein gutes Beispiel – und außerdem gibt es die Hoffnung auf mehr, viel mehr.
Der Blick über die Elbe, gegenüber das Dock von Blohm & Voss – die alte Wirtschaft, die schwere Güter transportiert, sie liegt dem promovierten Betriebswirt zu Füßen. Glänzer verkörpert den Aufsteigermythos der neuen, virtuellen Ökonomie. Doch Glänzers Anteil war schon mal viel mehr wert. Im Februar – etwa 540 Millionen Mark. Seitdem geht es fast nur noch abwärts mit der Aktie. Allein in der vergangenen Woche verlor sie über 30 Prozent ihres Wertes. Der Info-Dienst Platow-Brief hatte der Firma attestiert, dass ihr in Kürze das Geld ausgehen und der Konkurs drohen könnte. Ricardos Absturz ist symptomatisch für die gesamte Internet-Branche: Die Hälfte der neuen Firmen wird die nächsten Jahre möglicherweise nicht überleben. Mit Ricardo.de aber wird es wieder aufwärts gehen. Davon ist Stefan Glänzer überzeugt. Und seine Beschäftigten hoffen mit ihm. Denn die meisten bekommen einen Teil ihres Lohns in Form von Ricardo-Aktien, wodurch ihr Auskommen viel enger mit dem Auf und Ab an den Börsen zusammenhängt als bei Angestellten alten Typs.
Das gilt auch für Dirk Schittko, den Online-Auktionator. Schittko und seine Kollegen besetzen eine zentrale Position im Büro. Für die Außenwelt repräsentieren sie die Firma. Ihre Fotos prangen auf der Homepage im Internet.
12 Uhr. Die Auktion beginnt. Versteigert wird eine Spiegelreflex-Kamera. Das erste Gebot kommt aus Oberammergau: 20 Mark. „Sind Sie auch so ein Zentralverschluss-Typ?“, hämmert Schittko in die Tastatur. Sekundenbruchteile später erscheint dieser Kommentar auf den Bildschirmen aller KundInnen. „Manchmal etwas platt, meine Kommentare“, räumt der 32-Jährige ein. Für manche Surfer ist er zum Hassobjekt avanciert. „Bullshitko“ hat ihn ein Kunde unlängst genannt. Der Auktionator nimmt das als Ehrenbezeugung.
Das nächste Gebot: 30 Mark aus Neuruppin. Schittko zählt an: „Zum Ersten ...“ Für 66 Mark geht die Kamera schließlich über den virtuellen Tisch. Der Hermesversand wird sie dem Gewinner nach Hause liefern.
Ricardo hat mit der Kamera keinen Gewinn gemacht. Im Einkauf kostete sie 81 Mark. Oft sieht die Sache aber anders aus. Barhocker aus Edelstahl, Kleinwagen, der neueste Minicomputer finden Käufer über dem Einkaufs-, aber knapp unter Ladenpreis. „Auktiotainment“ heißt die Dienstleistung, „billiger Einkauf vom heimischen PC“ das Versprechen. Mittlerweile kann man bei Ricardo fast alles bekommen: kanadische Inseln mit Blockhaus für 37.000 Mark, britische Plastikfabriken für 20 Millionen. Es gibt einen eigenen Handelsplatz für Geschäfte zwischen Firmen. Und wer will, kann sein Plüschsofa übers Internet nach Südbaden verscherbeln.
Die Aktien der Beschäftigten – darüber spricht man gerne im Unternehmen. Grundsätzlich. Wer aber nach Zahlen fragt, erntet Schweigen. Nehmen wir also an, Dirk Schittko habe nach Ablauf seiner Probezeit das Anrecht erworben, dem Unternehmen 250 Ricardo-Aktien zum damaligen Kurs abzukaufen. Mindestens diese Zahl bietet Stefan Glänzer allen festen MitarbeiterInnen an. Und in anderthalb Jahren, wenn die betriebsinterne Sperrfrist abläuft, könnte der Auktionator die Anteile zum dann aktuellen Kurs über die Börse verkaufen. Gemessen am Kurs vom vergangenen Februar hätte Schittko sich auf 90.000 Mark freuen können. Gemessen am jetzigen Kurs nur noch auf 6.000.
Das scheint ihn nicht sonderlich anzufechten. „In erster Linie zählt das Unternehmen“, sagt er – der Spaß, mit anderen zusammen ein verrücktes Ding an der Front des neuen Internet-Kapitalismus zu drehen. Ein ungeschriebenes Gesetz bei Ricardo besagt, keine Nervosität zu zeigen, wenn der Kurs knickt. „Ein nettes Goodie“ sei ihr Aktienpaket, meint eine Mitarbeiterin. Sie sagt das, als rede sie über ein Ostergeschenk, auf das sie getrost verzichten könne.
Doch wie der Aktienkurs zwischen Hausse und Baisse oszilliert auch die Stimmungslage der Beschäftigten. Die Zuckungen der Ricardo-Aktie dienen als Kriterium für Erfolg oder Misserfolg. In den guten Zeiten im Februar war die Atmosphäre blendend. Manche MitarbeiterInnen hielten regelmäßige Sektwetten ab, wann die Aktie die nächste Schallmauer durchbrechen werde.
In einer Mischung aus Trotz und Biss sagt Gründer Stefan Glänzer: „Man darf sich nicht zu stark beeinflussen lassen“ – wenn es abwärts geht. Trotzdem geht die Fähigkeit, cool zu bleiben, immer gleichmäßig ranzuklotzen, manchen MitarbeiterInnen ab. Vor einigen Monaten, meint einer, habe er noch fest damit gerechnet, sich nach vier, fünf erschöpfenden Ricardo-Jahren einen schönen Bauernhof auf dem Lande leisten zu können. Das Eingeständnis, dass es vielleicht nur für eine Garage reicht, kommt ihm schwer über die Lippen.
Wer bei dem Online-Auktionshaus arbeitet, ist teilweise Angestellter, andererseits Unternehmer in eigener Sache. Fast alle können irgendwann wählen, ob sie mehr Fixlohn und weniger Aktienoptionen nehmen wollen oder umgekehrt. Stefan Glänzer forciert die Entlohnung per Aktien. Anders könnte man die Leute gegenwärtig auch gar nicht der langen Arbeitszeit und dem Stress entsprechend bezahlen – die roten Zahlen sitzen dem Betrieb im Nacken.
In dem aluminiumfarbenen Gebäude am großen Strom residieren die Online-Händler auf zwei Etagen. Geschoss zwei entspricht dem Bild der virtuellen Wirtschaftswelt mit vielen Rechnern und lässigen Menschen. Auf Deck eins dagegen spielt eher das normale Leben. Es riecht nach Pommes. Materie wird bewegt, hier stapeln sich Pakete jeder Größe. Von der Bildschirmoberfläche abgesehen ist der Betrieb ein stinknormales Versandhaus – das seine KundInnen schon mal vergrätzt, weil es nicht pünktlich liefert. Alle halbe Stunde karren schwitzende Boten palettenweise Reklamationssendungen heran. Ersteigerte Waschmaschinen, deren Farbe dem Empfänger nicht gefiel. Erotikpuppen, denen im Versand-Lkw die Arme abgerissen wurden. Was man auf dem Sonnendeck nicht hört, wird hier ausgesprochen. „Die Aktien sind auch notwendig, schließlich gibt es kein Weihnachts- und kein Urlaubsgeld.“ Die Materie-Arbeiter haben sich den unmittelbaren Sinn fürs Materielle bewahrt. Eine Zweiklassengesellschaft. Zusammengehalten wird sie auch von der Hoffnung aller Beschäftigten, der Aktiendeal möge sich lohnen.
Unten vor dem Eingang steht heute ein demonstrativ hingeparkter, roter Sportwagen südeuropäischer Herkunft. „So einen haben wir bald alle“, spottet der Pressesprecher Matthias Quaritsch. Noch fährt er einen alten Lancia.
Fotohinweis:Stefan Glänzer hat Ricardo.de vor zwei Jahren mit Studienfreunden gegründet
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