: Wittgensteins Fan
In seinem zweiten Roman „Freischwimmer“ erhöhen Umwege einmal mehr die Ortskenntnis: Ein Porträt des Schriftstellers Markus Seidel
von NADINE LANGE
Milchkaffee. Natürlich bestellt er Milchkaffe. Alles andere hätte auch nicht gepasst: So oft, wie der Schriftsteller Markus Seidel seine Romanfiguren Milchkaffee bestellen, trinken und verschütten lässt, muss es einfach sein Lieblingsgetränk sein. „Ich sitze gerne in Cafés und höre den Leuten zu“, sagt Seidel und trinkt einen hellbraunen Schluck, „manchmal bekomme ich dabei gute Ideen für Dialoge.“ Auch Kellnerinnen zu beobachten scheint eine große Inspirationsquelle für den 31-jährigen Autor zu sein: In seinem ersten Buch „Umwege erhöhen die Ortskenntnis“ sinniert der Held lange über die immer gleich angezogene Bedienung der Berliner B-flat-Bar nach, und in seinem neuesten Roman „Freischwimmer“ hat der Ich-Erzähler sogar Sex mit einer Serviererin.
Daraus sollten aber keine kühnen Schlüsse auf die Vorlieben von Markus Seidel gezogen werden: Zwar sei in seinen Büchern etwa ein Viertel des Inhalts autobiografisch. Doch meist gebe eine erlebte Situation nur den Anstoß und werde dann weiter gesponnen. Bei seinem Debüt hatte Seidel die biografisch gefärbten Rückblenden als erstes fertig. Darin lässt er den Ich-Erzähler immer wieder von seinem älteren Bruder Max berichten, der sich umgebracht hat – genau auf dieselbe Weise, wie es ein Bruder des Autors getan hat. Er hieß Stefan. Ihm hat Markus Seidel beide Bücher gewidmet. Und ein bisschen war es auch wegen Stefan, dass Markus überhaupt zu schreiben begonnen hat: Er saß zu dieser Zeit an seiner Magisterarbeit über die Außenseiter im Werk von Peter Handke und arbeitete gleichzeitig als Lektor im Ullstein Verlag. Trotzdem hatte er das Gefühl, viel Zeit zu haben. Denn abends in Bars zu gehen – dazu hatte er nach dem Tod des Bruders keine Lust. Also setzte er sich mit dem Laptop in die Küche seiner Wohngemeinschaft in Prenzlauer Berg und schrieb.
Schon als Kind hatte Seidel sich gewünscht, einmal Schriftsteller zu werden. Er fing an mit kleinen Gedichten, „die alle korrekt gereimt waren“. Ein Weihnachtsgedicht, notiert auf einer herausgerissenen Schulheftseite, hat er bis heute aufgehoben – es war ein großer Erfolg bei der seidelschen Weihnachtsfeier von 1976. In der Pubertät versuchte er sich an längeren Texten, aber die gerieten „alle hochgradig kitschig und schwülstig“, Markus Seidel wischt abwehrend mit der Hand durch die Luft.
Er vermutet, dass seine intensive Hermann-Hesse-Lektüre einige Schuld an diesen misslungenen Texte trug, die er alle wegwarf. Dennoch hoffte er immer, dass es eines Tages doch klappen würde mit der Schriftstellerei. Also parkte der Autor in spe ganz in der Nähe: Er machte in Hannover eine Buchhändlerlehre und erlernte damit denselben Beruf, den seine Mutter noch heute ausübt. Am Ende der Ausbildung wollte Markus Seidel jedoch lieber weiter mit Büchern arbeiten, anstatt sie nur zu verkaufen. Er begann ein Studium der Germanistik und Philosophie, das ihn nach Wien und schließlich nach Berlin führte. Den Drang zum Reisen und Umziehen hat Markus Seidel – der inzwischen hauptsächlich in Hamburg lebt – auch seinen Roman-Helden vererbt: Beide sind zu Beginn der Geschichten unzufrieden mit sich und ihrem Leben. Durch Ortswechsel wollen sie das ändern. So landet der Berliner Ich-Erzähler aus den „Umwegen“ erst in Prag und schließlich in Wien, und der Buchhändler Hannes aus dem „Freischwimmer“ zieht übergangsweise von Steglitz nach Kreuzberg und später nach Prenzlauer Berg.
Bei beiden funktioniert es: Sie wissen am Ende ihrer Ausflüge, was sie wollen und wohin sie gehören. „Ich bin jemand, der immer hofft, dass alles gut wird. Deshalb kann ich meine Figuren auch nicht scheitern lassen“, sagt Seidel, der wirkt, als würde ihn stets eine kleine Wolke aus Fröhlichkeit begleiten. Das liegt nicht nur daran, dass er viel lacht und ganz offen von sich erzählt. Sondern vor allem an seinen Augenbrauen: Sie sind groß, schräg und liegen weit auseinander über der kleinen Nickelbrille.
Markus Seidel ist ein Schnellschreiber: Drei Monate reichen ihm für einen Roman – der drittte ist bereits fertig. Er spielt wieder in Berlin und handelt von einem Langstreckenschwimmer, der seine Familie bei einem Unfall verloren hat. Auch bei diesem Stoff hat Seidel auf eigene Erfahrungen zurück gegriffen: Er war selber Schwimmer und hat einen Zwillingsbruder. Im Oktober wird Markus Seidel wieder umziehen. Er hat das von Günter Grass ins Leben gerufene Alfred-Döblin-Stipendium gewonnen und wird drei Monate lang mit zwei weiteren Autoren in einer Villa im holsteinischen Wewelsfleth wohnen. Eigentlich genau die richtige Zeitspanne für einen neuen Roman. Diesmal vielleicht mit einem Helden aus der Provinz? Das weiß Seidel noch nicht. Reizen würde ihn eher etwas Neues: ein Theaterstück. „Ich könnte mir vorstellen, einen fanatischen Wittgenstein-Anhänger zu erfinden, der alles, was er liest, auf sein eigenes Leben bezieht“, sagt Seidel, der seinen ersten beiden Büchern Wittgenstein-Zitate vorangestellt hat. Er verehrt den großen Denker sehr. Aber dass er genau wie dieser manchmal wochenlang dieselbe Kleidung trägt – das ist Zufall.
Markus Seidel: „Freischwimmer“, Droemer Verlag. München 2000, 231 Seiten, 14 DM
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