: Die EU hofft auf Ankara
EU-Kommissar Verheugen informiert sich in der Türkei über den Beitrittsprozess. Noch fehlen Resultate. Ob Reformen gegen den Apparat durchsetzbar sind, ist offen
ISTANBUL taz ■ „Die Zeit der Deklarationen ist vorbei, jetzt beginnt die wirkliche Arbeit.“ Während einer Pressekonferenz zum Auftakt eines zweitägigen Türkei-Besuches gab sich Günter Verheugen, EU-Kommissar für die Erweiterung der Union, betont optimistisch. „Wir sind auf einem guten Weg, und die Vorbereitungen der Dokumente für die Beitrittspartnerschaft liegen im Zeitplan.“
Verheugen, der am Mittwoch in Ankara eintraf, besuchte gestern die mittelanatolische Stadt Kayseri, um das Land besser kennen zu lernen. „Ich möchte von den Leuten vor Ort erfahren, was sie von der EU erwarten, und Meinungen zum Integrationsprozess von der Bevölkerung hören.“ Was immer Verheugen in Kayseri erfahren wird – sein Optimismus basiert zurzeit vor allem auf dem Prinzip Hoffnung und nicht auf Ergebnissen. Sein Besuch fällt auf den Tag genau mit der Bekanntgabe der Ernennung des früheren Ministerpräsidenten Mesut Yilmaz zum EU-Staatsminister zusammen.
Einer der Gründe, warum seit dem Helsinki-Gipfel im Dezember letzten Jahres auf türkischer Seite kaum etwas passiert ist, ist ein erbittertes Kompetenzgerangel hinter den Kulissen. Der Hauptgrund dafür ist Yilmaz. In der Dreiparteien-Regierung in Ankara hatte der Chef des kleinsten Koalitionspartners bislang kein Amt. Yilmaz war im Herbst 98 als Ministerpräsident gescheitert, weil ihm wegen diverser Korruptionsvorwürfe das Vertrauen entzogen wurde. Solange diese Vorwürfe nicht geklärt sind, sollte er kein Regierungsamt übernehmen.
Unbeeindruckt von diesem Agreement hatte Yilmaz im Frühjahr eine erste Regierungskrise heraufbeschworen, weil er unbedingt Süleyman Demirel als Präsident beerben wollte. Nachdem er damit scheiterte, ließ er Ministerpräsident Ecevit wissen, sein Ziel sei jetzt ein Querschnittsministerium zur EU-Anpassung. Um Yilmaz zu verhindern, stimmten die Abgeordneten der nationalistischen MHP, die mit der ANAP von Yilmaz und der DSP von Ecevit die Regierung bilden, in mehreren Parlamentsausschüssen dafür, Yilmaz vor Gericht zu bringen. Erst in einer Plenarabstimmung kam Yilmaz knapp davon.
Nun hat er es geschafft, aber ob seine Ernennung wirklich dem Integrationsprozess der Türkei in die EU dient, darf bezweifelt werden. In Europa erinnert man sich an ihn vor allem als an den Mann, der kein Fettnäpfchen auslässt. Innerhalb der Koalition wird er von MHP und DSP mit größtem Misstrauen betrachtet. Obwohl Yilmaz persönlich die EU-Forderungen vertritt und in der Kurdenfrage von den Hadep-Bürgermeistern in Diyarbakir und anderen Städten im Südosten als Hoffnungsträger gesehen wird, dürfte es ihm sehr schwer fallen, diese Positionen im Apparat auch durchzusetzen.
Jüngstes Beispiel ist die Debatte um die Rolle des Nationalen Sicherheitsrates. Eine vom Ministerpräsidenten eingesetzte Kommission, die feststellen sollte, welche Gesetze und Verordnungen in der Türkei im Zuge der Integration verändert werden müssen, hatte angeregt, die jetzige Dominanz der Militärs im Nationalen Sicherheitsrat dadurch zu relativieren, dass Zivilisten in diesem entscheidensten Gremium der türkischen Politik mehr Gewicht bekommen sollten. Der Vorschlag stieß im Generalstab auf heftigen Widerspruch und es würde einer breiten Übereinstimmung der zivilen Politik bedürfen, um eine Machtbeschneidung der Militärs durchzusetzen. Eine solche Übereinstimmung zu organisieren wird aber gerade einem Mann wie Yilmaz schwer fallen.
Erschwerend kommt hinzu, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleibt. Spätestens bis zum EU-Gipfel im Dezember in Nizza, erklärte Günter Verheugen gestern, soll das entscheidende Dokument zur Beitrittspartnerschaft vorliegen. Darin wird die EU auflisten, was sie genau von der Türkei erwartet, und die Türkei wird einen „Nationalen Beitrittsplan“ vorlegen, der festlegt, in welchem Zeitraum das Land welche Reformen umsetzt. Dieses Dokument wird die Bibel zum türkischen EU-Beitritt.
Auf die Ernennung von Yilmaz ging Verheugen nur indirekt ein. Viele Beitrittsländer hätte eine ähnliche interne Organisation, wie die Türkei sie jetzt beschlossen habe. Sein Hauptansprechpartner bleibe aber Außenminister Ismail Cem. Der nahm dies mit tiefer Befriedigung zur Kenntnis.
JÜRGEN GOTTSCHLICH
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