: Kleine Geschichte der Einwanderung
Vom willkommenen Gastarbeiter zum unerwünschten Ausländer: eine lesenswerte Einführung von Mark Terkessidis
Nach der parlamentarischen Sommerpause wird die politische Debatte um ein mögliches Einwanderungsgesetz in eine neue Phase treten. Dann wird die von Bundsinnenminister Otto Schily einberufene parteiübergreifende Einwanderungskommission ihre Arbeit aufnehmen und „tabulos“, so hat es Schily angekündigt, das Thema erörtern.
Natürlich wird das nicht ohne Streit abgehen. Denn Einwanderung ist ein Thema, das unabhängig vom jeweiligen politischen Standort deutsche Leidenschaften weckt. Wer in den nächsten Monaten im Freundeskreis oder am Kneipentisch kompetent mitstreiten will, sollte den Sommerurlaub nutzen und noch schnell das Bändchen „Migranten“ des taz-Autors Mark Terkessidis lesen.
In leicht verdaulichen Häppchen serviert Terkessidis die Geschichte der Einwanderung nach Deutschland der letzten hundert Jahre und beschreibt die Entwicklung vom willkommenen Gastarbeiter der Sechziger- zum unerwünschten Ausländer der Achtziger- und Neunzigerjahre. Darüber hinaus liefert der Autor einen Überblick über die wirtschaftliche Situation der Migranten, ihre bis heute prekäre rechtliche Stellung und widmet sich auch den allzu häufig vernachlässigten kulturellen Ausdrucksformen der Einwanderer.
Die „Gastarbeiterliteratur“, so Terkessisidis, sei längst keine „Literatur der Betroffenheit“ mehr, sondern biete eine Vielfalt an Themen und Formen, die von der Mehrheitsgesellschaft aber noch zu wenig beachtet würden.
Das reichliche Fotomaterial erzählt eigene Geschichten. Zum Beispiel, dass die „Gastarbeiter“ in den Sechzigerjahren noch jung und erwartungsvoll waren und auf ein merkwürdig erstarrtes Deutschland stießen. Drei Jahrzehnte später sieht alles ganz anders aus: Einerseits haben die Migranten den Alltag und das kulturelle Leben der Republik sichtbar verändert, andererseits bleiben sie gefangen in Zuschreibungen, die sie auf Gefährlichkeit, Andersartigkeit und Fremdheit festlegen.
Wer sich die drei, vier Stunden für die Lektüre gönnt, dessen Blick ist nicht nur geschärft für Diskriminierung und Rassismus in der Gesellschaft, sondern der kann die Frustration vieler Migranten angesichts der zähen einwanderungspolitischen Debatte in Deutschland besser verstehen. Und er ist gut vorbereitet auf die weiterführenden und tiefer schürfenden Arbeiten von Mark Terkessidis, zum Beispiel „Globalkolorit. Multikulturalismus und Populärkultur“ oder „Psychologie des Rassismus“, die beide bereits 1998 erschienen sind. EBERHARD SEIDEL
Mark Terkessidis: „Migranten“. Rotbuch Verlag, Hamburg 2000, 96 Seiten, 14,90 DM
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