: Wo der Pirol singt
Das idyllische Camp David in den Bergen Marylands verdankt seinen Namen dem Enkel Eisenhowers
Wer dem Wirrwarr der Ringstraßen und Stadtautobahnen um Washington entkommen ist, auf der Interstate 270 nach Norden fährt und ab Frederick nach Westen abbiegt, gerät in eine Landschaft aus Wiesen und Matten, Weiden und Triften, unterbrochen von Baumgruppen oder einer einsamen Farm, die aussieht, als hätte man sich in Tolkiens Auenland verirrt. Wie smaragdene Wellen tauchen die bewaldeten Hügel der Catoctin Mountains am westlichen Horizont auf, und kühler Schatten erlöst einen aus dem gleißenden Glast des Flachlands, wenn man in die schattige Umarmung der gewundenen Bergstraße einbiegt, die nach Camp David hinaufführt.
1942 reklamierte Präsident Franklin Roosevelt 80 Hektar bewaldetes Hügelland in den Ausläufern der Blue Ridge Mountains und nannte das Refugium „Shangri La“ – nach dem Namen, den James Hilton dem tibetischen Zauberland in seinem Roman „Lost Horizon“ gab. Erst Präsident Dwight Eisenhower, der in den 50er-Jahren des vorigen Jahrhunderts mit Nikita Chruschtschow hier ein paar Tage verbrachte und in der Waldeinsamkeit Marylands und der Formlosigkeit der Pfadfinderlageratmosphäre das Eis des Kalten Kriegs zu brechen versucht hatte, benannte den Ort nach seinem Enkel David um. Camp David war bei allen Präsidenten wegen seiner schattigen Kühle und der ungezwungenen Formlosigkeit beliebt, die hier herrscht. Bill Clinton veranstaltete hier gerne Brainstorming-Sessions mit seinen Mitarbeitern und ließ sich hier auch schon von Psychogurus beraten. Weltberühmt wurde das präsidentielle Waldversteck durch Jimmy Carter, der 1978 Israels Ministerpräsidenten Menachem Begin und den ägyptischen Präsidenten Anwar as-Sadat hier so lange einsperrte, bis die beiden sich auf die Rückgabe des Sinai an Ägypten geeinigt und einen Prozess in Gang gesetzt hatten, dessen Schlussakt jetzt als Happy End geschrieben werden soll.
Camp David ist für die Öffentlichkeit gesperrt, Pressebilder kommen vom Fotografen des Weißen Hauses. Doch zum Meadow Park Camp kann man hinauffahren und in den umliegenden Wäldern wandern. Wer dabei innehält, kann dem Gesang des Pirols und anderer Vogelarten lauschen, deren Melodien wie Lieder aus glücklicheren Zeiten klingen.
Erholen werden sich die palästinensischen und israelischen Unterhändler im lauschigen Grün Marylands dennoch wohl kaum, angesichts der Vertracktheit der nahöstlichen Problematik. Aber die milde Ruhe der Landschaft und die Stille der Natur bieten immer wieder Gelegenheit zur Besinnung und zum Schöpfen neuer Kraft. Und das dürften die drei Verhandlungsparteien wohl am allermeisten brauchen. PETER TAUTFEST
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