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Von Ariern und anderen Klodeckeln

■ Das Stadtteilarchiv in der Bremer Neustadt erforscht das jüdische Leben des Stadtteils im Nationalsozialismus und davor

Minsk, immer wieder Minsk. Mehr nicht. Ein kleines Kreuz davor, bei manchen Namen noch der Vermerk „verhaftet am 10.11.1938“. Ein Leben, gepresst in zwei Zeilen: Name, Geburtstag, Wohnort, verhaftet oder auch nicht. Dann das Kreuz. Gestorben in einem Lager. Schicksal einer jüdischen Familie. Es geht um die Familie Grünberg aus der Bremer Neustadt. Ihre Existenz ist dokumentiert in jener Aufzählung im Standardwerk „Die Bremer Juden unter dem Nationalsozialismus“. Ihrem Leben, ihren Orten spürt nun das Stadtteilarchiv Neustadt nach. Fünf Frauen, die in der Neustadt leben, sowie der Historiker Torsten Schlusche wollen die Geschichte der Grünbergs und anderer Familien sichtbar machen.

Die Grünbergs. 26 dokumentierte Familienmitglieder, in Wahrheit wohl viel mehr. Lebten vom „Rohproduktenhandel“, von dem Handel mit Altmetall, Altglas, Alttextilien. Hatten Hallen und Häuser in der Duckwitzsstraße, in der Hohentorstraße, am Neustadtswall. Dann Minsk und die Kreuze. Zwei starben in Theresienstadt. Wenigen gelang die Auswanderung.

Blaue, gelbe und rote Punkte auf einer großen Kopie eines Stadtplans von 1935 zeigen die Spuren der Grünbergs und der anderen. Massiert in der Oster- und Westerstraße, in Richtung stadtauswärts immer weniger. Der Plan ist erstes sichtbares Ergebnis der Geschichtsgruppe. Sie fotografieren die alten Häuser oder das, was heute an ihrer Stelle steht. Sie befragen Nachbarn oder Verwandte. Sie gehen ins Staatsarchiv und wälzen Akten. Und Torsten Schlusche führt Interviews mit Menschen, die sich an ihre jüdischen Nachbarn oder Freunde erinnern. Oder gar mit jüdischen Bürgern, die überlebt haben. Aber das sind nicht viele.

Die Interviews tippt er ab und legt sie den anderen vor. Dann wird diskutiert. Ob der Begriff „Arier“ in Anführungsstrichen stehen muss, zum Beispiel. Unbedingt, findet Herma Stolberg, 46. „Weil wir keine Arier sind.“ Und weil kein ewig Gestriger auf die Idee kommen soll, wir wären's, nur weil das Wort ohne Anführungsstriche steht. Schlusche hält dagegen. „Weil die Nazis sich für Arier gehalten haben.“ Ein Begriff, sagt Christiane Krausch, 42, „mit dem Überlegenheit suggeriert wurde.“ Ein „zusammengeschusterter Begriff“. Das ist wieder Schlusche. Und: „Wenn's den Begriff nicht gegeben hätte, hätte man ja auch als Klodeckel gehen können.“

In dem Interview geht es um den Abtransport jüdischer Männer aus der Kornstraße nach der „Reichskristallnacht“. Die dann im Bremer Standardwerk als Namenszeile mit Kreuz wieder auftauchen. Jemand erinnert sich an sie. Zwei Überlebende, ein Ehepaar. „In eineinviertel Stunden acht Pfefferminzschnäpse und vier Zigarillos“, so Schlusches Bilanz eines Gesprächs. Die Frau hat erzählt, wie sie sich versteckt hat. „Das war der Teil“, berichtet er, „wo ich sehr still geworden bin. Da war klar, das geht sehr tief.“ Er wollte nicht „sowas wie neugierig“ sein. „Sie selbst hat überlebt, indem sie sich in Bremen versteckte“, heißt es karg in der Abschrift, „sie war ganz allein.“

„Die Schicksale und das Unverständnis diesen Grausamkeiten gegenüber“ sind es, die Birte Schleef, 32, in der Gruppe mitmachen lassen. Von „Unfassbarkeit, die mich seit der Schule nicht mehr losgelassen hat“, spricht auch Christiane Krausch. Und davon, dass sie die aktuelle Tendenz zu Schlussstrichen für bedenklich hält: „Nee, da mach' ich nicht mit.“ Ähnliches sagt Herma Stolberg, und die 19-jährige Vibke Martens schließlich macht mit, „weil mich das alles interessiert.“ Historiker Torsten Schlusche hat jüdische Geschichte bereits in seinem süddeutschen Heimatort aufgearbeitet. „Die Juden waren da, dann waren sie weg“ – zwei Botschaften, so erfährt Schlusche immer wieder, „die völlig gleichgehandelt werden“. sgi

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