piwik no script img

Nix für ungut? Vergelt’s Gott?

Sozialreferent Friedrich Graffe überlegt, was er sagen soll. Olena Swytka will mit dem Scheck ihr Haus renovieren und lädt die Münchner zum Fest ein

aus Kiew PHILIPP MAUSSHARDT

Der Brief, den der Postbote vor zwei Wochen zu Olena Swytka brachte, war 14 Zeilen lang. Der Zusteller war die schon sehr wackelige Holztreppe zur Veranda des heruntergekommenen kleinen Bauernhäuschens hinaufgestiegen und hatte das Kuvert mit einer gewissen Bedeutung in der Miene an die 72-Jährige überreicht: Man bekommt nicht so oft Post in Zibli aus dem 140 Kilometer entfernten Kiew. Frau Swytka also wurde in dem Brief gebeten, am Freitag, dem 20. Juli, in die Hauptstadt zu kommen. Als ehemaliger Zwangsarbeiterin in München wolle man ihr dort eine Entschädigung ausbezahlen. Gezeichnet war das Schreiben von einem gewissen Friedrich Graffe, Sozialreferent der Stadt München.

Als man in Berlin und New York noch über die Höhe und die Modalitäten der Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter in Deutschland stritt, traf im Januar dieses Jahres der Münchner Stadtrat einen einsamen Beschluss: Unabhängig vom Verhandlungsergebnis in Berlin sollte jeder noch lebende Zwangsarbeiter, der nach München deportiert worden war und heute in Kiew und Umgebung lebt, 1.200 Mark erhalten. Insgesamt drei Millionen Mark stellte die Stadt dafür zu Verfügung. Mehr als 100.000 Zwangsarbeiter waren während des Krieges in München eingesetzt. Die meisten von ihnen stammten aus dem Gebiet der heutigen Ukraine.

Olena Swytka war eine von ihnen. Sie war 1943 gerade 15 Jahre alt, als ein Trupp deutscher Soldaten sie zusammen mit anderen Jugendlichen in Zibli auf einen Lastwagen lud. Tage später entstieg sie in München einem Güterwaggon und wurde zur Firma Knorr eingeteilt, um Schrauben für Bremsen zu sortieren. Jetzt, 57 Jahre später, so entnahm Olena Swytka dem Brief, soll in Deutschland „das öffentliche Bewusstsein verstärkt werden für das Ausmaß des menschlichen Leids, das insbesondere ukrainischen Zivilarbeiterinnen und Zivilarbeitern zugefügt worden ist“.

Olena Swytka lebt heute von einer monatlichen Rente in Höhe von 65 Griwni. Das sind umgerechnet dreißig Mark. Selbst in der Ukraine ist es eine Kunst, davon zu leben und nicht zu sterben. Das Kunststück gelingt ihr dank ihren 15 Hühnern, ihren 15 Enten und ihren 10 Fingern, schwarz und schwielig von der Feldarbeit. Olena Swytka hat sich schon am vergangenen Donnerstag, einen Tag vor der angekündigten Auszahlung, auf die Reise in die Hauptstadt gemacht. Sicher ist sicher. Sie hat ihre weiße Bluse mit den Rüschen angezogen und ihr schönstes Kopftuch umgebunden. 1.200 Mark! So viel verdient ein Facharbeiter im ganzen Jahr. Auch Sozialreferent Friedrich Graffe ist seit Donnerstag unterwegs nach Kiew. Um dem Vorwurf der Verschwendung öffentlicher Steuergelder vorzubeugen, hat die dreiköpfige Delegation der Stadt München den billigsten Flug nach Kiew mit der ungarischen Linie Malev gebucht (767 Mark), mit langem Aufenthalt in Budapest. Am Zielort ließ sich Graffe in einem alten Kleinbus des „Arbeiter Samariter Bundes“ chauffieren, und gegessen wurde nichts. „Nachher sagt man uns sonst noch eine Luxusreise nach“, sagt er.

Während des Fluges hat sich Friedrich Graffe immer wieder gefragt: Was sagt er, wenn er den Umschlag überreicht? Symbolik liegt dem nüchternen Westfalen nicht so. Ginge es nach ihm, man hätte es auch bei einer Überweisung bewenden lassen können.

Die Abwicklung aller für die Ukraine bestimmten Entschädigungen ehemaliger Zwangsarbeiter hat in Kiew eine Stiftung übernommen, die mit dem Titel „Verständigung und Aussöhnung“ einen passenden Namen und in Igor Lushnikov einen Präsidenten gefunden hat, der zwar noch jung ist, gleichwohl aber durch sein Auftreten, seine Körperfülle und sein staatsmännisches Mienenspiel durchaus auf erfahrene Jahre in der ukrainischen Bürokratie verweist.

Die Stiftung sitzt in einem alten Backsteingebäude im Zentrum von Kiew, verfügt über eine computergestützte Datenerfassung, und der zentrale Rechner spuckt auf Mausklick für jeden betroffenen deutschen Betrieb eine Liste von ukrainischen Zwangsarbeitern aus. In klimatisierten Räumen versuchen 52 Mitarbeiter täglich aufs Neue eine gewisse Systematik, zumindest aber eine geometrische Ordnung in die Briefstapel zu bekommen, die sich seit Bekanntwerden einer in Aussicht gestellten Entschädigungszahlung hier jeden Morgen auf den Schreibtischen türmen. Briefe wie dieser: „Sehr geehrte Damen und Herren. Ich, Fedir Schewtschenko bin der Sohn von Pjotr Schewtschenko, der am 30. Januar diesen Jahres verstorben ist und als Zwangsarbeiter nach Deutschland deportiert worden war. Können wir trotzdem mit einer Zahlung rechnen?“ Oder: „Wie lange wird es dauern, bis die Auszahlung erfolgt?“, fragt eine 84-jährige Frau mit zittriger Handschrift, „denn ich beabsichtige, mit dem Geld meine Beerdigung zu bezahlen.“

In der Nacht zum Freitag hat Friedrich Graffe auf seinem Hotelzimmer in Kiew noch einmal die Beschlussvorlage des Münchner Stadtrates vom 5. April durchgelesen. Eigentlich sollte der Münchner Oberbürgermeister Christian Ude hier sitzen. Doch der bespricht die Umbaupläne des Olympiastadions mit dem „Kaiser“ und dem bayerischen Ministerpräsidenten.

Graffe, der daheim Herr über 3.500 Mitarbeiter und einen Etat in Höhe von 1,6 Milliarden Mark ist, wird es am Vorabend auf einmal etwas mulmig. Er kennt die Berichte, die die Stadtverwaltung zur Lage der rund 100.000 Zwangsarbeiter Münchens anfertigen ließ. Aber einem Einzelnen zwölf Hundertmarkscheine in die Hand zu drücken, diesen Akt, man spürt es Graffe an, hätte er doch lieber jemand anderem überlassen. „Es ist ja keine Entschuldigung, wofür ich bitten kann, und eine wirkliche Entschädigung ist es ja auch nicht.“ Aber auf den persönlichen Vollzug zumindest der ersten 15 Auszahlungen hat die ukrainische Seite bestanden.

Mindestens so aufgeregt wie Friedrich Graffe ist Olena Swytka an diesem Freitag Morgen. Sie hat bei ihrer Tochter in Kiew übernachtet, und vor lauter Anspannung hat sie nicht daran gedacht, ihren Pass einzustecken, als sie sich auf den Weg macht zum Sitz der Stiftung für „Aussöhnung und Verständigung“ in der Frunzestraße. In einem kleinen Besprechungszimmer im dritten Stock des Gebäudes hat man für die 15 alten Frauen und Männer drei Stuhlreihen aufgestellt. Manche von ihnen werden von Angehörigen gestützt dorthin geführt, andere gehen gebeugt am Stock.

Alle haben ihre besten Kleider angezogen. Tatjana Bubon, der das Alter den Rücken gekrümmt hat, hat den abgerissenen Henkel ihrer Kunstledertasche mit Stoffresten wieder angenäht und drückt das gute Stück nun, stumm wartend, fest umklammert auf den Schoß. Ein Fernsehteam des staatlichen ukrainischen Fernsehsenders ist gekommen, und im Radio hatten sie schon am Morgen durchgesagt, dass ein „Gospodin Graffe“ aus München heute das erste Geld an Zwangsarbeiter aus Kiew verteilen wird. „Es ist ein Tag“, sagt Pjotr Orobej, der in der zweiten Reihe Platz genommen hat, „auf den wir sehr lange gewartet haben.“

Am ovalen Tisch des Besprechungszimmers haben der Stiftungspräsident, sein Stellvertreter, Vertreter der Stadt Kiew, der Abteilungsleiter der deutschen Botschaft und der Vorsitzende des Opferverbandes der Verfolgten des Faschismus Platz genommen. Der Präsident der Stiftung macht den Anfang und spricht von einem „guten Tag für die Beziehungen zwischen Deutschland und der Ukraine“ und sagt: „München ist ein Musterbeispiel, dem hoffentlich viele deutsche Städte noch folgen werden.“ Dann muss Graffe ran. Er hat sich nichts aufgeschrieben, redet frei und seine zwei Meter hohe Gestalt wirkt plötzlich sehr raumfüllend. Zunächst „überbringt“ er „die Grüße des Stadtrates von München“, lobt dessen „schnelle Umsetzung des Beschlusses“ und spricht dann „von Schuld und Verbrechen, die in der Hauptstadt der Bewegung“ an Zwangsarbeitern während der Nazi-Zeit begangen wurden. Doch München heute, „diese Stadt ist anders“, sagt er, und dann vergisst Graffe, Sozialwissenschaftler der 68er-Generation, der auf jeden Fall vermeiden wollte, am Ende wie ein Gönner zu erscheinen, alle seine Vorsätze und wird, was er vermeiden wollte, emotional: „Es ist für mich heute eine Ehre, eine Freude und ein mich sehr bewegender Moment.“

Tatjana Bubon, die mit der geflickten Handtasche, ist die erste, die, aufgerufen, an dem langen ovalen Tisch vorbei nach vorne kommt. Graffe muss sich weit nach unten bücken, um ihr die Hand zu schütteln. „Spasiba“ sagt die alte Frau und steckt den Umschlag in ihre Tasche. „Ich danke Ihnen auch“, antwortet Graffe, dessen Hochdeutsch keine Ausflüchte in den oft rettenden bayerischen Dialekt erlaubt („Passt scho“, „Vergelt’s Gott“, „Nix für oguat“).

Manche der Alten erinnern sich an ihr weniges Deutsch, das ihnen noch im Gedächtnis geblieben ist: „Schönen Dank“, sagen manche und einer, der bei Krauss-Maffei seinen Frondienst geleistet hat, bittet die Übersetzerin ein paar Worte ins Deutsche zu übertragen: „Ich danke allen Münchnern dafür, dass sie uns doch nicht vergessen haben.“ Da ringt auch der Westfale Graffe kurz mit der Fassung.

Dann wäre Olena Swytka an der Reihe. Immer noch sucht sie nach ihrem Pass, den sie vorzeigen muss, um ihre Auszahlung zu erhalten. „Mama, du hast ihn zu Hause liegen lassen“, sagt ihre Tochter, „ich renne gleich los und hole ihn.“ Mit dem Geld, sagt Olena Swytka zum Begleiter des Sozialreferenten, während sie im Flur auf die Rückkehr ihrer Tochter wartet, „werde ich mein Häuschen richten. Zum Dach regnet es herein, und die Veranda stürzt bald zusammen. Kommen Sie mich besuchen in Zibli, guter Mann, dann feiern wir ein großes Fest.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen