: Elternmobbing
Pädagogische Weicheier oder tyrannisierende Unmenschen? – Eltern werden in der Gesellschaft nach diskriminierenden Mustern beschrieben
von HERBERT BECKMANN
Wir Eltern scheinen auf ganzer Linie zu versagen: Immer mehr Kinder, heißt es, sind nicht nur aggressiv und gewalttätig, sondern werden auch krank an Leib und Seele, süchtig und straffällig. Und fast immer spielt das „Elternhaus“ oder der „elterliche Einfluss“ nach Expertenmeinung dabei eine unrühmliche, soll heißen verursachende Rolle. Kinder, die Geborgenheit vermissten, trösteten sich, so mokierte sich der Erziehungswissenschaftler Peter Struck in einer deutschen Tageszeitung, „mit Kuscheltieren, mit Haustieren oder gar mit Ratten“. (Pfui!) Weil problemgeplagte Eltern ihren Kindern nicht mehr zuhörten, wie sie das früher, als Struck noch jung war, immerzu taten, stopften sie sie heute voll mit Nahrung, Spielzeug, Geld und Fernsehen. Die Kinder griffen dann zu Nikotin, Alkohol, Tabletten und illegalen Drogen oder erlägen der Spielsucht.
Diese gute alte, eindimensionale Kausalität in der deutschen Erziehungswissenschaft reicht aber nicht aus, um alle „Krankheiten der Jugend“ zu erklären. Vernachlässigt werden meist die konkreten sozialen und materiellen Lebensbedingungen der Kinder und Jugendlichen. Es fehlt bislang eine wirkliche Lobby für Eltern, die Leistungen und Fehlleistungen von Müttern und Vätern gegenüber ihren Kindern in der Gesellschaft adäquat darstellen würde.
Eltern werden in der Öffentlichkeit ständig nach zwei diskreditierenden Mustern beschrieben. Entweder erscheinen Väter und Mütter als ihre Kinder prügelnde, vergewaltigende, vernachlässigende, tyrannisierende und sonstwie gewalttätige Unmenschen. Oder sie sind die infantilen, grenzenlosen, allzu vorsichtigen, antipädagogisch verbildeten „Weicheier“, die am Ende von ihrem verkorksten Nachwuchs zum Zigaretten- und Bierholen geschickt werden – „sonst setzt es was“. Zwischen diesen beiden Polen herrscht das Niemandsland, in dem sich kein Vater, keine Mutter längere Zeit aufzuhalten scheint.
Das Muster mag deutlicher werden, wenn wir betrachten, was speziell Müttern, oft unter einer hauchdünnen Decke heuchlerischer Solidaritätsfloskeln, vor Augen gehalten wird. Geht Mutter Rabe arbeiten, so vernachlässigt sie als bloße Feierabendmutter die Kinder. Bleibt sie zu Hause, so verdirbt sie ihre Luxuskinder durch gluckenhaftes Betütteln, weil sie außer Nägellackieren und Golfspielen sonst offenbar nichts zu tun hat: „Die Auswirkungen des Mütter-Dilemmas sind für viele Kinder fatal“, schreibt etwa Christiane Grefe in ihrem Buch „Ende der Spielzeit“: Es sei „eine Mischung aus Vernachlässigung und Verwöhnung, wenn Frauen den ganzen Tag unterwegs sind“. Und am schwersten trifft es demzufolge einmal mehr die Kinder Alleinerziehender.
Dabei hat der klinische Psychologe Udo Rauchfleisch, zahlreiche Studien über „alternative Familienformen“ zusammenfassend, darauf hingewiesen, dass sich die Entwicklung von Kindern aus so genannten „Ein-Eltern-Familien“ im Großen und Ganzen nicht von der unterscheidet, die Kindern aus „Zwei-Eltern-Familien“ durchlaufen. Dass jene Kinder keineswegs häufiger psychische und soziale Probleme haben als diese. Hauptbelastungen für die Kinder von Alleinerziehenden stellen vielmehr ein geringes Einkommen und finanzielle Unsicherheiten dar, die sich selbstverständlich auch auf das Befinden der Kinder auswirken.
Wo die Eltern vermeintlich versagen, will – ausgerechnet – die Leistungsanstalt Schule einspringen. Erziehungsstarke Lehrer sehen sich zunehmend im Recht und in der Pflicht, Kindern mit Defiziten und ihren Eltern grundlegend die Flötentöne beizubringen. Den allgemeinen Bedarf an ausgleichender Erziehung scheint schließlich bereits die offenbar jährlich steigende Zahl schulunreifer Kinder anzuzeigen. Auffallend daran ist zunächst, dass die Güte der Schulreifetests und die aus ihnen resultierende Zurückstellung der Kinder gar nicht in Frage gestellt werden. Hinter den Kulissen freilich brodelt der Unmut, denn die Ablehnungsquoten bei den Einschulungsuntersuchungen werden von behördlichen Schulexperten bundesweit als zu hoch angesehen.
Zudem lässt sich rückblickend auf die vergangenen vier Jahrzehnte durchaus kein stetiges Ansteigen der Rückstellungsquote schulunreif getesteter Kinder feststellen. Ende der Neunzigerjahre betrug der Durchschnitt für schulunreif erklärter Kinder in Berlin etwa 13 Prozent. In meinem Geburtsjahr 1960 aber übertraf die Rückstellungsquote im westfälischen Münster die 20-Prozent-Marke. Es erscheint immerhin verwunderlich, dass heute die Münsteraner nicht schon zu Häupten der Wiedertäufer auf den Dächern ihrer einstigen Wohnhäuser herumklettern.
Wie es aber auch kommen mag – ob dein Kind „schulunreif“ ist, ob es in der Schule keine Lust zum Lernen hat, ob es früher oder später „nicht mehr mitkommt“ –, Erziehungsexperten zählen dir deine Fehler als Eltern garantiert haarklein auf. Was aber macht in Wahrheit den schulischen Erfolg aus? Es sind zuallererst die konkreten sozialen und materiellen Lebensbedingungen der Kinder: Nach Untersuchungen des Schulforschers Achim Leschinsky von der Humboldt-Universität Berlin besuchten zum Beispiel in Berlin im Schuljahr 1997 durchschnittlich 42 Prozent der Siebtklässler das Gymnasium im Anschluss an die Grundschule. Diese Quote fällt aber ganz anders aus, wenn sie in Abhängigkeit vom Wohnviertel der Kinder gelesen wird. In materiell ärmeren, problembelasteten Stadtbezirken mit hoher Arbeitslosigkeit, hoher Einwandererquote und schlechten Gesundheitsdaten wechselte nur etwa jeder vierte Schüler aufs Gymnasium; in den reicheren Bezirken mit durchschnittlich günstigeren Sozialdaten waren es 80 bis 90 Prozent der Schüler.
Kindererziehung ist niemals eine Erfolgsstory von A bis Z. Es fehlt aber das Bewusstsein oder die Anerkennung der Tatsache, dass der Einfluss von Eltern auf die Erziehung ihrer Kinder heute nur einer von vielen ist. Dass Kräfte der gesamten Gesellschaft – und hier nicht zuletzt die soziale und materielle Situation von Familien – auf die Kinder einwirken, die den elterlichen Absichten und Handlungen vielfach zuwiderlaufen.
Eine Diskussion des realen elterlichen Einflusses findet in der Gesellschaft eben nicht statt. Lernprozesse und Offenheit sind aber nur dann zu erwarten, wenn die zu beobachtende einseitige Schuldzuweisung gegenüber Eltern einer fairen Beurteilung der Gesamtsituation von Familien Platz machte. Ein Klima müsste geschaffen werden, in dem Eltern sich auch mit ihren real existierenden Fehlern outen können, ohne von vornherein als alleinige Sündenböcke für alles und jedes, was das Kind betrifft, festzustehen und an den Pranger gestellt zu werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen